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Liebe Vereinsmitglieder, Freundinnen und Freunde des Schweizerischen Sozialarchivs
 
In den letzten 100 Jahren stimmten Schweizer StimmbürgerInnen insgesamt 22 Mal bei AHV-bezogenen Urnengängen ab. Und auch in diesem September wird die AHV wieder zu reden geben, wenn es darum geht die Weichen für die Altersvorsorge 2020 zu stellen. Aus aktuellem Anlass nimmt Sie Christian Koller dieses Mal mit auf eine Zeitreise zu den Anfängen der AHV in der Schweiz und bereichert diesen spannenden Ausflug mit einer Fülle an sachbezogenen Quellen aus dem Bestand des Schweizerischen Sozialarchivs.  

Lesen Sie ausserdem ein spannendes Interview mit Prof. Dr. Peter Grob zur neuen Chronologie der Schweizer Drogenpolitik. Stöbern Sie in den Audiobeständen der radioschule klipp+klang oder erforschen Sie den Nachlass des "Fernsehpfarrers" Urs Eigenmann, der mit seinen Reden im "Wort zum Sonntag" regelmässig gesellschaftskritische Fragen stellte.
 
Selbstverständlich finden Sie auch dieses Mal wieder unsere monatlichen Zuwachslisten für die Monate Mai und Juni, sowie interessante und überraschende Buchtipps und Veranstaltungshinweise.

Wir freuen uns über Ihr Feedback und wünschen wie immer viel Spass beim Erkunden des Newsletters.
 
Vassil Vassilev, Leiter Benutzung
 

Vor 70 Jahren: Grünes Licht für die AHV

Wenn die Schweizer Stimmberechtigten am 24. September zur Abstimmung über die Altersvorsorge 2020 an die Urnen gerufen werden, ist dies bereits die 23. eidgenössische Abstimmung zum Thema AHV in den letzten 100 Jahren. Aus diesen Urnengängen ragt sowohl bezüglich der Bedeutung als auch was die Eindeutigkeit des Resultats betrifft eine Abstimmung hervor: diejenige vom 6. Juli 1947 über die Einführung der AHV. Die mit 80% Ja-Stimmen „wuchtig“ (wie es in der zeitgenössischen Berichterstattung immer wieder hiess) gutgeheissene Vorlage wurde bereits damals als Meilenstein der modernen Schweizer Geschichte verstanden. Das Solothurner SP-Blatt Das Volk etwa schrieb von einem „Ehrentag der Eidgenossenschaft“ und setzte das AHV-Jahr 1948 grafisch mit dem Gründungsjahr des modernen Bundesstaates hundert Jahre zuvor gleich. Dass der Halbkanton Obwalden das Gesetz als einziger Stand abgelehnt hatte, wurde allenthalben als Kuriosum betrachtet. Die grösste Zustimmung kam aus dem Kanton Tessin mit 90,6% Ja-Stimmen. In einzelnen Abstimmungsbezirken war das Resultat noch eindeutiger: Der Zürcher Stadtkreis 5 meldete rekordverdächtige 97,6% Ja-Stimmen.

Zwar hatte man im Vorfeld allgemein mit einer Annahme des Gesetzes gerechnet, in dieser Eindeutigkeit war der Ausgang der Referendumsabstimmung allerdings nicht erwartet worden. Gegen die Ende 1946 von den eidgenössischen Räten mit grossem Mehr verabschiedete Vorlage hatte ein Komitee aus rechtsliberalen, Unternehmer- und katholisch-konservativen Kreisen Stimmung gemacht. Die Nachricht über die Ergreifung des Referendums stiess bei der Befürworterseite auf Unverständnis: Die Neue Zürcher Zeitung titelte „Der Kampf beginnt“ (24. Januar 1947) und das Volksrecht schrieb gar vom „Aufmarsch der Demagogen“ (22. Januar 1947). Am Abend vor der Abstimmung veranstaltete die Zürcher SP auf dem Helvetiaplatz eine Kundgebung „Gegen die Feinde der AHV“, an der sich rund 12‘000 Personen beteiligten. Nach der Abstimmung trat das AHV-Gesetz rasch in Kraft und im Januar 1948 wurden die ersten Renten ausbezahlt.


Ein Neugeborenes für die Alten: Illustration zum Ausgang der AHV-Abstimmung vom 6. Juli 1947 (SozArch F 5030-Pb-018)

Der im Schweizerischen Sozialarchiv gelagerte Nachlass des Werbers Victor N. Cohen, der die Pro-Kampagne unter dem Motto „Lasst uns tapfer beginnen!“ koordinierte, zeigt die Professionalität, mit der bereits damals Abstimmungskämpfe geführt wurden. Neben Plakaten und zielgruppenspezifischem Druckmaterial gelangte auch das Medium Film zum Einsatz. Cohen sammelte in seiner Abstimmungsdokumentation auch die Inserate und Broschüren der Gegenseite. Diese kritisierte etwa eine angebliche Bürokratisierung, die vorgesehene Ausrichtung von AHV-Renten auch an nicht Bedürftige sowie deren „liederliche Finanzierung“, die angeblich für keine zwei Jahrzehnte gesichert sei.


Werbung für die AHV an der Maifeier 1947 (SozArch F Ob-0001-289)


Werbung für die AHV an der Maifeier 1947 (SozArch F 5047-Fb-389)

Die Geschichte der AHV reicht indessen bedeutend weiter zurück als ins Jahr 1947. Bereits in den 1880er Jahren waren Forderungen nach Einrichtung einer staatlichen Versicherung zur Überwindung der weit verbreiteten Altersarmut erhoben worden, etwa auf dem Arbeitertag 1883 oder an der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Grütlivereins 1888. Im nördlichen Nachbarland führte Reichskanzler Bismarck genau in jenen Jahren ein System staatlicher Sozialversicherungen ein. Auf die Krankenversicherung im Jahre 1883 und die Unfallversicherung ein Jahr später folgte 1889 die Rentenversicherung. Bismarcks Sozialpolitik war Teil einer Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie, um die Arbeiterschaft an den kaiserlichen Obrigkeitsstaat zu binden und der Arbeiterbewegung das Wasser abzugraben. Seit 1878 verbot das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ sozialistische und gewerkschaftliche Organisationen, Publikationen und Versammlungen, hingegen nicht die Kandidatur von Sozialdemokraten für den Reichstag. Bismarcks Strategie ging nicht auf. Trotz der Verfolgungen stieg der sozialdemokratische Wähleranteil während der 1880er Jahre stetig an. 1890 verweigerte der Reichstag die Fortsetzung des Sozialistengesetzes, bei den kurz darauf folgenden Wahlen wurde die Sozialdemokratie wählerstärkste Partei. Trotz der deutlich verschiedenen politischen Situation in der republikanischen Schweiz wurde die Sozialpolitik im nördlichen Nachbarland genau beobachtet.


Inserate der AHV-Gegner von 1947 (SozArch Ar 141.10.2)


Inserate der AHV-Gegner von 1947 (SozArch Ar 141.10.2)

Im Jahre 1890 begründete der neue Artikel 34bis der Bundesverfassung die erste Bundeskompetenz für Sozialversicherungen. Der Verfassungsartikel beschränkte sich auf die Kranken- und Unfallversicherung, während die Altersversicherung, über die die vorberatende Parlamentskommission zunächst ebenfalls diskutiert hatte, aussen vor blieb. Die ersten Sozialversicherungen auf Bundesebene wurden aber erst nach der Jahrhundertwende realisiert: 1902 die Militärversicherung, 1914 die Krankenversicherung und 1918 die Unfallversicherung. Schwierigkeiten mit dem Kranken- und Unfallversicherungsgesetz drängten für mehr als zwei Jahrzehnte die Debatte über die Altersversicherung in den Hintergrund. Erst 1912 wurde diese mit einer Motion des St. Galler Demokraten und Grütlianers Otto Weber im Nationalrat wieder aufgenommen, durch den Kriegsausbruch dann aber erneut unterbrochen.


Aus der Urzeit der Altersversicherungen: Entwurf für eine Stadtzürcher Pensionskasse aus dem Jahre 1827 (SozArch 368/44-Z1)

Zu diesem Zeitpunkt gab es eine unkoordinierte Vielzahl von Instrumenten der Altersvorsorge, die aber nur einen Bruchteil der Bevölkerung erfassten. Bereits im frühen 19. Jahrhundert hatten einzelne Kantone für einzelne Kategorien von Staatsangestellten (insbesondere Lehrer und Polizisten) Pensionskassen eingerichtet. Pensionsgesetze für alle Staatsangestellten drangen aber erst Ende des 19. Jahrhunderts in einzelnen Kantonen durch. Auf Bundesebene erhielten die Angestellten der SBB 1907 eine Pensionskasse, die Bundesbeamten aber erst 1921. In der Privatwirtschaft gab es im 19. Jahrhundert noch kaum entsprechende Vorsorgeeinrichtungen. Im Jahre 1903 waren erst 61‘000 Arbeitnehmer bei einer Pensionskasse versichert. Daneben boten verschiedene Privatversicherer und Hilfsgesellschaften Rentenversicherungen an. Freiwillige kantonale Altersversicherungen gab es nur in der Romandie (in Genf seit 1849, in Neuchâtel seit 1898 und in der Waadt seit 1907). Noch 1920 waren 83% der Männer zwischen 65 und 70 und 60% der über 70jährigen Männer erwerbstätig. Über ein Drittel der alten Menschen in der Schweiz waren zu diesem Zeitpunkt unterstützungsbedürftig. In der Krise der 30er Jahre sollte dieser Anteil dann zeitweise sogar auf bis zu 40% ansteigen.


Enttäuschung über die Ablehnung der AHV-Vorlage von 1931 (SozArch F Pa-0002-023)

Vor diesem Hintergrund vermag es nicht zu erstaunen, dass die Forderung nach einer Alters- und Hinterbliebenenversicherung auf Bundesebene auch im Reformkatalog des Oltener Aktionskomitees während des Landesstreiks figurierte. Das Thema Altersversicherung beschäftigte zu diesem Zeitpunkt auch bürgerliche Kreise. 1916 hatte der Kanton Glarus als erster eine obligatorische kantonale Altersversicherung eingeführt, im folgenden Jahr wurde die Stiftung „Für das Alter“ (die heutige Pro Senectute) unter dem Patronat der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) als privates Hilfswerk gegen Altersarmut ins Leben gerufen. Im Mai 1918 nahm der jungfreisinnige Verband die Forderung nach einer AHV in sein Programm auf, gefolgt von der Konservativen Volkspartei kurz nach dem Landesstreik. Der freisinnige Basler Nationalrat Christian Rothenberger schlug im November 1918 erfolglos vor, aus dem Ertrag der Kriegsgewinnsteuer einen Fonds für Sozialversicherung zu äufnen.


Die Zeit nach dem Weltkrieg planen: Überparteilicher Vorschlag für eine AHV (SozArch 368/52)

Bereits zwei Monate nach dem Landesstreik setzte der Bundesrat eine Expertenkommission zur Beratung einer Alters- und Hinterbliebenenversicherung ein und legte schon im Juni 1919 eine entsprechende Botschaft vor. Nationalrat Rothenberger lancierte eine Volksinitiative für eine Invaliditäts-, Alters- und Hinterlassenenversicherung, die 1925 mit 58% Nein-Stimmen scheiterte. Wenige Monate später hiess das Stimmvolk aber mit Zweidrittelmehrheit den neuen Artikel 34quater der Bundesverfassung gut, der die Verpflichtung zur Schaffung einer AHV und die Kompetenz zur Einrichtung einer Invalidenversicherung beinhaltete. Im selben Jahr führte der Kanton Appenzell-Ausserrhoden eine obligatorische kantonale Altersversicherung ein, sieben Jahre später folgte Basel-Stadt. Verschiedene Städte schufen zu dieser Zeit kommunale Altersbeihilfen, so die Stadt Zürich 1929/30 schon kurz nach dem Beginn des „Roten Zürich“. Der grosse Wurf, eine Altersversicherung auf Bundesebene, misslang hingegen zunächst. Im Dezember 1931 scheiterte ein AHV-Gesetz an der Urne mit 60,3% Nein-Stimmen deutlich. Das auf den freisinnigen Bundesrat Edmund Schulthess zurückgehende Gesetz, das den Verfassungsauftrag  von 1925 umzusetzen versuchte, hätte ein Obligatorium mit öffentlichen Kassen, Umlageverfahren und sehr bescheidenen Einheitsrenten ab dem 66. Altersjahr vorgesehen.


Das Flaggschiff des Schweizer Sozialstaats als multifunktionales Argument (SozArch F Pe-0542)


Das Flaggschiff des Schweizer Sozialstaats als multifunktionales Argument (SozArch F Ka-0001-896)


Das Flaggschiff des Schweizer Sozialstaats als multifunktionales Argument (SozArch F Ka-0002-232)

Damit war die seit 1918 entfaltete Dynamik vorerst abgestoppt. In der Folge beschränkte sich der Bund damit, die 1929 begonnene Subventionierung der Stiftung „Für das Alter“ weiterzuführen und ab 1934 auch Beträge an die Kantone zur Unterstützung von bedürftigen Alten, Witwen und Waisen auszurichten. Diese Beiträge wurden kontinuierlich erhöht, noch 1941 machten sie aber erst 100 Franken pro Jahr und unterstützungsbedürftige alte Person aus. Parallel zur AHV-Debatte kam es in der Zwischenkriegszeit zu einem raschen Ausbau der Pensionskassen und betrieblichen Wohlfahrtsfonds, bedingt durch die Steuerbefreiung der Versicherungsbeiträge. Im Jahre 1925 gab es bereits 262‘000 Versicherte. Da bis 1935 Arbeitnehmer bei Stellenwechsel keinerlei Recht auf die eigenen Pensionskassenbeiträge hatten, entwickelten sich diese Kassen aber auch zu einem Instrument betrieblicher Personalpolitik.

Die unmittelbare Vorgeschichte der AHV begann mit dem Zweiten Weltkrieg. Im Dezember 1939 beschloss der nunmehr mit Vollmachten ausgestattete Bundesrat die Einrichtung einer Lohnersatz-Ordnung für Wehrmänner, die über je zwei Lohnprozente von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie einen Bundeszuschuss finanziert war und deren Organisation auf Ausgleichskassen beruhte. Es war dies das Ergebnis eines Lernprozesses aus dem Ersten Weltkrieg, bei dem die Verarmung zahlreicher Wehrmänner und ihrer Familien zur Krisensituation der Jahre 1917/18 beigetragen hatte. Die neue Lohnersatz-Ordnung erschien als Modell für eine zukünftige Altersversicherung. Bereits 1940 forderte der Schweizerische Gewerkschaftsbund, das System bei Kriegsende in eine AHV zu überführen. 1942 legte ein von Arbeitnehmerverbänden, der SP und der FDP getragenes Komitee ein entsprechendes Projekt mit dem Titel „Gesichertes Alter“ vor. Einen Dämpfer hatte die Bewegung allerdings im Vorjahr erhalten, als in Zürich eine von Banken- und Versicherungskreisen bekämpfte Vorlage für eine kantonale Altersversicherung an der Urne gescheitert war. Zudem explodierte in den Jahren 1939 bis 1942 unter dem Einfluss der „Betriebsgemeinschafts“-Idee sowie fiskalischer Anreize die Zahl der Pensionskassen, die manchen als Alternative zu einer staatlichen AHV erschienen. Noch 1941 war aber lediglich jeder vierte Arbeitnehmer bei einer beruflichen Vorsorgeeinrichtung versichert. Nicht zuletzt die weit verbreitete Furcht vor einem neuen „1918“ aufgrund der kriegsbedingten Reallohnverluste liess es angezeigt erscheinen, die Realisierung der AHV nicht länger auf die lange Bank zu schieben.

In seiner Neujahrsansprache auf das Jahr 1944 gab der freisinnige Bundespräsident und Wirtschaftsminister Walther Stampfli das Versprechen ab, dass bis 1948 eine AHV eingeführt werde - ohne dass zu jenem Zeitpunkt bereits eine klare Vorstellung über die Konzeption dieses Sozialwerkes bestanden hätte. Eine im Mai 1944 vom Bundesrat eingesetzte Expertenkommission legte im März 1945 einen Bericht vor, der eine auf dem Umlageverfahren beruhende obligatorische Versicherung mit abgestuften Renten und Rentenalter 65 für beide Geschlechter vorsah. Bundesrat und Parlament hielten sich weitgehend an diesen Entwurf, der im Dezember 1946 von beiden Räten verabschiedet und im Juli 1947 vom Stimmvolk gutgeheissen wurde. Nachdem 1946/47 eine Übergangsordnung gegolten hatte, konnte das AHV-Gesetz auf Januar 1948 in Kraft treten. Die Einführung der AHV bettete sich ein in einen internationalen Trend zu Sozialreformen nach dem Zweiten Weltkrieg. In Grossbritannien, beispielsweise, wo 1908 der von einer liberalen Regierung geschaffene „Old-Age Pensions Act“ Altersbeihilfen ab 70 für Geringverdienende mit „good character” eingeführt hatte, legte 1942 eine Kommission unter Leitung des liberalen Politikers und Ökonomen William Beveridge einen Plan für ein umfassendes Sozialversicherungssystem vor, der auch die AHV-Diskussion in der Schweiz beeinflusste und nach einem Erdrutschsieg der Labour Party bei den Unterhauswahlen im Juli 1945 weitgehend umgesetzt wurde. Der „National Insurance Act“ von 1946 deckte auch die Altersversicherung ab, zum Flaggschiff des britischen „Welfare State“ wurde aber der „National Health Service“ (NHS), der 1948 seinen Betrieb aufnahm. In Frankreich fassten 1945 zwei „Ordonnances“ die bestehenden Sozialversicherungen zu einem System der „Sécurité sociale“ zusammen und identifizierten Lücken, die in der Folge geschlossen wurden.

Die AHV avancierte rasch zum Flaggschiff des schweizerischen Sozialstaates. In den 50er Jahren wurden in vier Revisionen die ungenügenden Renten angehoben. Ab 1959 war als Vorsteher des Departements des Innern SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi für das AHV-Dossier zuständig, unter dessen Ägide zwischen 1961 und 1972 vier weitere AHV-Revisionen das Sozialversicherungswerk weiterentwickelten und die Renten zum Teil massiv erhöhten. In die Amtszeit des für seine Effizienz bekannten Innenministers („Tschudi-Tempo“) fiel auch die Einführung der Ergänzungsleistungen 1965 und die Verankerung des Dreisäulenprinzips in der Bundesverfassung 1972. Im zur Personalisierung neigenden kollektiven Gedächtnis teilt der Sozialdemokrat Tschudi mit dem Freisinnigen Stampfli den Titel eines „Vaters der AHV“.


Abgelehnte Vorschläge zur AHV-Finanzierung (SozArch F 5123-Pe-146)


Abgelehnte Vorschläge zur AHV-Finanzierung (SozArch F Ob-0003-062)

Die seit 1947 stetigen politischen Debatten um die AHV drehten sich im Wesentlichen um fünf Punkte: das (in der Anfangszeit wiederholt angehobene) Rentenniveau, das Verhältnis zwischen AHV und Pensionskassen, das Rentenalter, die Geschlechter(a)symmetrie in der Altersvorsorge sowie die Finanzierung. Im AHV-Gesetz von 1947 war das Rentenalter für beide Geschlechter auf 65 festgelegt. Während dies für die Männer so blieb, wurde das Frauenrentenalter in der Folge auf 63 (1957) und 62 (1964) gesenkt, um sodann wieder auf 63 (2001) und 64 (2005) angehoben zu werden. Seit 1978 kamen nicht weniger als sechs Initiativen vors Volk, die eine Senkung oder Flexibilisierung des Rentenalters forderten, während seit den 90er Jahren mit demografischen und finanziellen Argumenten auch immer wieder für eine Erhöhung des Rentenalters plädiert wurde. Die Problematik der Geschlechter(a)symmetrie in der Altersvorsorge ging aus deren Ursprung in der Wehrmänner-Lohnersatz-Ordnung hervor und widerspiegelt die Entwicklung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und juristischen Geschlechterordnung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Von Beginn weg war in der AHV der Mann als „Normalperson“ definiert, während es je nach Zivilstand und Erwerbstätigkeit mehrere Kategorien von Frauen gab. Erst die 10. AHV-Revision von 1994 verbesserte durch Splitting sowie Erziehungs- und Betreuungsgutschriften die Stellung der Frauen wesentlich. Die Finanzierung der AHV schliesslich spielte nicht nur bei den meisten bisherigen AHV-Revisionen eine Rolle, sondern war seit der Jahrtausendwende auch Gegenstand einer ganzen Reihe von Volksinitiativen. Die Ideen, der AHV Mittel aus Energieabgaben, Goldreserven, Nationalbankgewinnen oder einer nationalen Erbschaftssteuer zuzuführen, wurden vom Stimmvolk aber allesamt bachab geschickt.

Christian Koller

Material zum Thema im Sozialarchiv:

Archiv
  • Ar 1.430.1 bis 4 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Sozialversicherung: AHV
  • Ar 1.140.15 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Initiativen/Referenden AHV
  • Ar 42 Schweizerische Vereinigung für Sozialpolitik
  • Ar 141.10.1/2 Nachlass Victor N. Cohen: Kampagne Pro AHV 1947
  • Ar 201.8 Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV
  • Ar 504 Pro Senectute Schweiz
  • Ar 508 AVIVO Zürich
  • Ar 521 Pro Senectute Kanton Zürich
  • Ar SGG B 4 a Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft: Bestrebungen zur Eidgenössischen Alters- und Hinterbliebenenversicherung, 1926 bis 1932
  • Ar SMUV 06A-0006 Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen (SMUV): AHV 1942-1946
  
Sachdokumentation
  • KS 362/25  Altersfürsorge
  • KS 368/44  Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherungen: Schweiz
  • KS 368/45 Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherungen: Schweiz: Eidgenössische Räte
  • KS 368/46 bis 54  Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherungen: Schweiz: Bund
  • KS 368/55 bis 60  Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV): Schweiz
  • QS 60.0 C *So Schweizerische Stiftung für Solidarität    
  • QS 61.3 C Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV): Schweiz        
  • ZA 61.3 C Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV): Schweiz
  • ZA 61.5 Betriebliche Sozialversicherungen: Zweite Säule, Pensionskassen, BVG
  • DS 7       Reform der Altersvorsorge 2020
  • DS 9       Reform „Altersvorsorge 2020“
  • DS 155 Rentenabbau stoppen: AHV-Renten endlich wieder verbessern           
  • DS 208 AHVplus - ...für eine starke AHV             
  • DS 209 AHVplus und Ergänzungsleistungen in Kürze    
  • DS 210 In Kürze: AHVplus ist finanzierbar          
  • DS 211 AHV – Eine starke Altersvorsorge für Jung und Alt         
  • DS 213 SGB mobilisiert gegen Rentenabbau und für eine starke AHV
  • DS 336 AHVplus in Kürze           
  • DS 245 AHV gefährden statt sichern? Teure AHV-Initiative Nein
  • DS 247 Wer rechnet, stärkt die AHV. Sieben Argumente für ein Ja zu AHVplus               
  • DS 248 Wer rechnet, stärkt die AHV     
  • DS 274 Nein zur teuren und verantwortungslosen AHV-Initiative         
  • DS 282 Rentenabbau stoppen – AHV stärken!                
  • DS 283 Stop alla riduzione delle rendite - rafforziamo l'AVS      
  • DS 334 Wer rechnet, stärkt die AHV - 7 Argumente für ein Ja zu AHVplus         
  • DS 335 Der AHV-Faktencheck
  • DS 337 AHVplus und Ergänzungsleistungen in Kürze    
  • DS 338 Bauern können rechnen: Darum AHV stärken
  • DS 339 AHV stärken: anständige Renten für die Frauen und für alle!
  • DS 469 Arbeitslosigkeit bekämpfen, Kaufkraft stärken, Pensionskassen entlasten
  • DS 522 Offener Brief zur Reform der Altersvorsorge 2020, Differenzbereinigung
  • DS 564 AV 2020 - Ja zu sicheren Renten und mehr AHV
  • DS 644 Die Musth des freisinnigen Elefanten oder die Trumpsche Krise der Gegner der Altersvorsorge 2020
  • DS 647 "Frauendachverbände für Rentenreform"
Bibliothek
  • Berenstein, Alexandre : L'assurance-vieillesse suisse: Son élaboration et son évolution. Lausanne 1986 (Signatur: 80588)
  • Binswanger, Peter: Geschichte der AHV: Schweizerische Alters- und Hinterlassenenversicherung. Zürich 1986 (Signatur: 80270)
  • Bödiker, T.: Die Arbeiterversicherung in den Europäischen Staaten. Leipzig 1895 (Signatur: A 2317)
  • Brütsch, Ernst: Staatliche Altersrenten nach dem Umlegeverfahren: Vorschlag für eine Schweizerische Altersversicherung. Bern 1942 (Signatur: 12358)
  • Bundesamt für Sozialversicherung (Hg.): Die in der Schweiz bestehenden Einrichtungen für die Alters-, Invaliden- und Hinterlassenen-Versicherung im Jahre 1925 : Hilfskassenstatistik. Bern 1929 (Signatur: Gr 1866)
  • Gilomen, Hans-Jörg et al.  (Hg.): Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung: Umbrüche und Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Zürich 2002 (Signatur: 110402)
  • Hafner, Georg: Bundesrat Walther Stampfli (1884-1965): Leiter der Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg, bundesrätlicher Vater der AHV. Olten 1986 (Signatur: 82065)
  • Illi, Martin und Ernst Welti: Ruhestand statt Altersnot: 100 Jahre Pensionskasse Stadt Zürich, 1913-2013. Zürich 2013 (Signatur: Gr 13030)
  • 50 Jahre AHV, 25 Jahre 3-Säulen-Konzept: wie weiter? Beiträge und Referate zur 25. AWP-Jubiläums-Arbeitstagung vom 26. Februar 1998. Bern 1998 (Signatur: Gr 9649)
  • Lasserre, André: L’institution de l’assurance-vieillesse et survivants (1889-1947), in:  Ruffieux, Roland et al.: La démocratie référendaire en Suisse au 20e siècle. Fribourg 1972. Bd. 1, S. 259-326 (Signatur: 49407)
  • Leimgruber, Matthieu:  Solidarity without the state? Business and the shaping of the Swiss welfare state, 1890-2000. Cambridge 2008 (Signatur: 123387)
  • Leimgruber, Matthieu und Martin Lengwiler (Hg.): Umbruch an der „inneren Front“ : Krieg und Sozialpolitik in der Schweiz, 1938-1948. Zürich 2009 (Signatur: 121550)
  • Luchsinger, Christine: Solidarität, Selbstständigkeit, Bedürftigkeit: Der schwierige Weg zu einer Gleichberechtigung der Geschlechter in der AHV, 1939-1980. Zürich 1995 (Signatur: 98331)
  • Moeckli, Silvano: Den schweizerischen Sozialstaat verstehen: Sozialgeschichte – Sozialphilosophie – Sozialpolitik. Zürich 2012 (Signatur: 126344)
  • Müller, Stefan: Entstehung und Entwicklung der AHV von 1945 bis 1978: Aus ökonomischer Sicht, dargestellt an Hand der Schaffung und Entwicklung des AHV-Gesetzes. Fribourg 1978 (Signatur: 63351)
  • Petersen, Jørn Henrik et al. (Hg.): The Politics of Age: Basic pension systems in a comparative and historical perspective. Frankfurt 2009 (Signatur: 121258)
  • Ruoss, Matthias: Fürsprecherin des Alters: Geschichte der Stiftung Pro Senectute im entstehenden Schweizer Sozialstaat (1917-1967). Zürich 2015 (Signatur: 132436)
  • Seifert, Kurt: Eine Jahrhundertgeschichte: Pro Senectute und die Schweiz, 1917-2017. Hg. Pro Senectute Schweiz. Baden 2017 (Signatur: UGr 90)
  • Sozialdepartement der Stadt Zürich (Hg.):  Jetzt reicht es: Leben mit Zusatzleistungen zur AHV/IV in der Stadt Zürich: Seit 1930. Zürich 2005 (Signatur: 115219)
  • Tschudi, Hans-Peter: Entstehung und Entwicklung der schweizerischen Sozialversicherungen. Basel 1989 (Signatur: 90302)
  • Tschudi, Hans-Peter: Im Dienste des Sozialstaates: Politische Erinnerungen. Basel 1993 (Signatur: 95836)  

 

Veranstaltungen und Kooperationen des Schweizerischen Sozialarchivs


Russland aktuell

Veranstaltungsreihe in Zusammenarbeit mit dem Center for Eastern European Studies der Universität Zürich

Donnerstag, 9. November 2017, 19 Uhr, Theater Stadelhofen

Russland und die Schweiz
Mit Peter Collmer (Universität Zürich) und Christian Koller (Schweizerisches Sozialarchiv)

Donnerstag, 16. November 2017, 19 Uhr, Theater Stadelhofen

Russlands Gesellschaft zwischen Apathie, patriotischem Enthusiasmus und kreativer Rebellion
Mit Ekaterina Emeliantseva (Universität Zürich), Svetlana Boltovskaja (Herder-Institut Marburg) und Gleb Albert (Universität Zürich)

Donnerstag, 14. Dezember 2017, 19 Uhr, Theater Stadelhofen

Ein neuer Kalter Krieg? Russland und der Westen
Mit Jeronim Perovic (Universität Zürich), Christof Münger (Tages-Anzeiger) und Daniel Wechlin (Neue Zürcher Zeitung)
 

Weitere Veranstaltungen

 
Donnerstag, 31. August 2017, 19 Uhr, Theater Stadelhofen

Neue Frauenbewegung 2.0 – Schweizer Frauengeschichte im Netz
Vernissage der interaktiven Website „Neue Frauenbewegung 2.0“ mit Kristina Schulz, Magda Kaspar (Universität Bern), Christian Koller u. a.
> Projektinformationen: www.hist.unibe.ch/forschung/forschungsprojekte/neue_frauenbewegung_20
 
Donnerstag, 14. September 2017, 18:30 Uhr, Medienraum

Grazie a voi: Ricordi e Stima - Fotografien zur italienischen Migration in der Schweiz
Buchpräsentation
 
Donnerstag, 23. November 2017, 19 Uhr, Theater Stadelhofen

Im Vorzimmer zur Macht?
Buchpräsentation und Podiumsdiskussion zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Frauenorganisationen in den Schweizer Parteien
 

Veranstaltungen in Kooperation mit dem Sozialarchiv


Samstag, 16. September 2017, 10-14 Uhr, Friedhof Sihlfeld

Tag des Friedhofs 2017
Historisch interessante Gräber und Denkmäler im Friedhof Sihlfeld
Mit Nicola Behrens (Stadtarchiv Zürich) und Christian Koller
Programm

 
Samstag, 2. Dezember 2017, 13–16 Uhr, Medienraum und Stadtrundgang

Drogenkonsum und Drogenpolitik in der Stadt Zürich
Mit Christian Koller
> Buchung bei der Volkshochschule Zürich

 

Neue Chronologie der Schweizer Drogenpolitik von Peter J. Grob

Peter J. Grob, Prof. em., Dr. med., ehemals Leiter der Klinischen Immunologie am Universitätsspital Zürich, war in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien insbesondere zur Bekämpfung von Hepatitis und Aids tätig. 2009 veröffentlichte er das Buch «Zürcher ‹Needle-Park› – Ein Stück Drogengeschichte und -politik 1968–2008» (eine 2. Auflage erschien 2012), welches das Alltagsleben auf dem Platzspitz, den Drogenhandel und die Reaktionen aus Politik und Medien der damaligen Zeit beschreibt. Diese Publikation war mit Fotos von Gertrud Vogler bebildert. Die Fotografin übergab ihr Negativarchiv im Jahr 2013 dem Sozialarchiv und die neu erschlossenen Fotos werden laufend über die Datenbank Bild + Ton zugänglich gemacht (www.bild-video-ton.ch/bestand/signatur/F_5107).

Nun hat Peter J. Grob in einem 50-seitigen Dokument mit dem Titel «Illegale Drogen und ihre medizinischen, sozialen und politischen Folgen: Eine Chronologie der Ereignisse in der Schweiz 1967–2016» die wichtigsten Begebenheiten und Entwicklungen in der Schweizer Drogenpolitik chronologisch zusammengefasst. Der Bericht wird von der Bibliothek des Sozialarchivs in digitaler Form zur Verfügung gestellt und ist über den NEBIS-Katalog zugänglich (www.recherche-portal.ch/ZAD:default_scope:ebi01_prod010902371).
 
Susanne Brügger, Leiterin der Bibliothek des Sozialarchivs, hat sich mit Peter J. Grob zu einem kurzen Gespräch getroffen und ihm einige Fragen zur Thematik gestellt:

SB: Herr Grob, wie kamen Sie in den späten 1960er Jahren mit dem Drogenproblem in Berührung?
PG: Die klinische Immunologie des Universitätsspitals war damals europäisches Referenzlabor für die neu entdeckten Hepatitisviren geworden und erhielt Blutproben von vielen Ärzten, immer häufiger mit der Angabe, dass diese von Drogenkonsument/innen stammten. Von Drogen wusste ich wenig, wollte mir ein Bild machen, verliess den universitären Elfenbeinturm und kam mit der Realität ausserhalb in Berührung.

SB: Wie sah diese Realität aus?
PG: Ich traf auf Menschen, verstreut und in Gruppen, die aus der Normalität, wie ich sie selber kannte, herausgefallen waren. Sie befanden sich in verschiedenen Stadien: dahin dösend, in Trance oder verzweifelt nach Drogen, Geld und einer Bleibe suchend. Was vor allem beeindruckte, war die soziale und medizinische Verwahrlosung.


Gertrud Vogler: Im Rahmen des Pilotprojekts Zipp-Aids werden saubere Spritzen verteilt, 1989 (SozArch F 5107-Na-16-034-025)

SB: Wie hat sich die Problematik nach 1968 weiterentwickelt?
PG: Die Zahl von intravenös spritzenden Konsument/innen von Heroin und Kokain nahm immer mehr zu, auch die Drogenkriminalität. Um den Anfängen zu wehren, beschloss das Schweizer Stimmvolk 1975, das Betäubungsmittelgesetz in Richtung Repression zu verschärfen. Zwei Lager standen sich danach gegenüber: einerseits die Befürworter des Betäubungsmittelgesetzes, das vorschrieb, dass die Drogensucht nur durch Repression und Entzug zu lösen sei, und andererseits die soziale und medizinische Seite, welche die Sucht als Krankheit einstufte. Die Hepatitis-Epidemie in den 1970er Jahren hatte die Bevölkerung und auch die Politik wenig aufgeschreckt. In Zusammenarbeit mit allen Zürcher Spitälern und zahlreichen Privatärzten hatte bereits 1981/82 die weltweit grösste Hepatitis-B-Impfaktion stattgefunden, die auch Drogenkonsument/innen miteinbezog, die aber kaum Beachtung fand. Dies änderte sich erst ab Mitte der 1980er Jahre mit dem Auftreten von HIV/Aids und der Erkenntnis, dass intravenös spritzende Drogenkonsument/innen besonders betroffen waren. Das machte Angst, Handeln war gefragt.

SB: Welche Änderung bewirkte HIV/Aids für Ihre Anliegen?
PG: Es waren nicht meine Anliegen, sondern es war generell eine neue Herausforderung für die Behörden und vor allem auch die sozio-medizinischen Kreise. Man hatte die Drogenkonsument/innen während Jahren von einem Ort zum anderen getrieben, was auch für die Ordnungskräfte und die Bevölkerung frustrierend war. Es gab zwar erste Drogenhilfestellen, die aber bald überlastet waren. Auch die Behörden der Stadt Zürich waren überfordert und suchten nach Alternativen. 1986 wurde der Platzspitz als Ort für geduldeten Drogenkonsum «freigegeben». Es entstand die weltweit erste offene Drogenszene dieser Art. Bald einmal versammelten sich dort Hunderte, dann Tausende Drogenkonsument/innen aus der ganzen Schweiz, weitgehend sich selbst überlassen, viele sozial und medizinisch verwahrlost, einige mit Hepatitisviren und HIV infiziert. Der Platzspitz war zu einem Ort geworden, wo sich Hepatitis und HIV auf die Bevölkerung ausbreiten konnten. Man musste handeln. Schliesslich kam das «Wunder von Zürich», so nannte ich das.


Gertrud Vogler: Aufrufe zum Impfen („Gilb“ = umgangssprachlich Gelbsucht/Hepatitis), 1989 (SozArch F 5107-Na-16-032-033)

SB: Was bedeutet «Wunder von Zürich»?
PG: Die Behörden Zürichs und des Bundes ermöglichten das Zürcher Interventions-Pilotprojekt für Drogenabhängige gegen Aids (Zipp-Aids), dies unter der Trägerschaft der Sektion Zürich des Schweizerischen Roten Kreuzes, des Stadtärztlichen Dienstes, dreier Universitätsinstitute sowie des Bundesamtes für Gesundheit. Zürich sprach einen tranchenweisen Kredit von 3 Mio. Franken und das Bundesamt für Gesundheit einen von 2.4 Mio. Franken, obwohl vieles von dem, was wir dort taten – etwa die Spritzenabgabe – eigentlich gegen das geltende Betäubungsmittelgesetz verstiess. Innerhalb von 38 Monaten hatte man über zwei Millionen Kontakte zu Drogenkonsument/innen hergestellt, über 7 Mio. gebrauchte gegen sterile Spritzen ausgetauscht und tausendfach medizinische Hilfe geleistet.

SB: Was wäre geschehen, wenn man den Platzspitz nicht «erlaubt» hätte?
PG: Dann hätte sich HIV und Hepatitis in der Bevölkerung wohl noch stärker und rascher verbreitet. Schliesslich aber waren es die Verhältnisse auf dem Platzspitz, der inzwischen international «Needle Park» genannt wurde, die zu einem Umdenken in der eidgenössischen Drogenpolitik und Drogenhilfe hin zur Vier-Säulen-Strategie führten.

SB: Wie kam es zu dieser Vier-Säulen-Strategie und was beinhaltet sie?
PG: Man realisierte, dass man mit Repression keine Chance hatte, gegen Infektionen wie Hepatitis oder HIV zu kämpfen, und ebenfalls, dass eine Drogensucht so nicht einfach gestoppt werden konnte. Indem man die Repression um die Prophylaxe, Therapie und Schadensminderung erweiterte, entstand das Vier-Säulen-Modell – eine Pionierleistung der Schweiz, die in der Folge in vielen Ländern der Welt Nachahmung fand.

SB: Was denken Sie über den Platzspitz im Nachhinein?
PG: Er zeigte nicht nur die Bedrohung durch Hepatitis und HIV/Aids, sondern das ganze gesellschaftliche Ausmass der Drogenepidemie. Zuvor hatten Studien immer selektive  Gruppen von Drogenkonsument/innen betroffen. Nun erkannte man deren ganzes Spektrum, das von höheren Angestellten, Student/innen, Lehrlingen, Prostituierten bis zu Aussteigern reichte, Personen auch «aus gutem Haus» umfasste, nicht nur aus der Stadt, auch vom Land. Ein Drittel der Platzspitz-Besucher/innen führte ein normales Leben, ein Drittel fiel aus dem System und fand wieder zurück, und ein Drittel landete einfach auf der Strasse.

SB: Ihre Chronologie endet nicht 1992 mit der Schliessung des Platzspitzes, sondern geht bis 2016. Was waren die Meilensteine in dieser Zeit?
PG: Ich möchte diese Frage in zwei Teilen beantworten. In der Schweiz entstand ein grosses Netzwerk von sozialer und medizinischer Drogenhilfe. Zwecks Schadensminderung der Drogensucht wurden die Methadonsubstitution und die heroingestützte Therapie eingeführt, was bei Tausenden Drogenabhängigen zumindest eine Stabilisierung der Sucht erlaubte. Prophylaktische medizinische Massnahmen wie die Hepatitis-B-Impfung und die immer erfolgreichere Behandlung von HIV/Aids führten zu einer starken Abnahme dieser Infektionen und deren Folgen, wobei bis heute aber noch namhafte «Altlasten» bestehen.

SB: Wie lautet der zweite Teil der Antwort?
PG: Vormals war der intravenöse Konsum illegaler Drogen das überragende Problem gewesen. Dann kamen zunehmend neue Drogen, Designerdrogen, in der Party- und Livestyle-Welt auf und brachten neue soziale und medizinische Probleme mit sich – eine neue Herausforderung. Man führte u.a. das Pillentesting ein. Ein Meilenstein war, dass das Schweizer Stimmvolk 2008 eine weitere Revision des Betäubungsmittelgesetzes annahm, welche die Vier-Säulen-Strategie weitgehend verankerte.

SB: Was sind Ihre wichtigsten Schlussfolgerungen 2017?
PG: Zum Schluss der Chronik 1967–2016 äussere ich meine persönliche Hoffnung, dass die Lehren, die sich daraus ziehen lassen, etwas zur Meinungsbildung für die zukünftige Drogenpolitik beitragen: hin zu einem weiteren Abbau der Stigmatisierung und Kriminalisierung von Konsument/innen illegaler Drogen, zur Aufhebung der Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Drogen sowie zum Festhalten am Vier-Säulen-Prinzip, an Prophylaxe, Therapie, Schadensminderung und adäquater Repression.


Gertrud Vogler: Sanibus/Zipp auf dem Platzspitz: Die mobile Arztpraxis installierte sich in einem Katastrophenanhänger des Sanitätskorps, 1992 (SozArch F 5107-Na-15-095-022)

 

Forschung Ellen Rifkin Hill:

Umstrittenes Europa - Eine Netzwerkanalyse der deutschsprachigen Alpenschutzbewegung 1975-2005


Mit der Übernahme des Vereinsarchivs der Alpen-Initiative und der Initiative Transport Europe (ITE) im Herbst 2016 gelangte das Schweizerische Sozialarchiv in Besitz des Archivbestands einer bedeutenden europäischen Umweltbewegung. Die Alpen-Initiative: eine europäische Umweltbewegung? Diese These, die schweizerische Alpen-Initiative sei Teil einer europäischen Bewegung zum Schutz der Alpen und damit nicht nur ein schweizerisches Anliegen, vertritt mein Dissertationsprojekt Umstrittenes Europa – Eine Netzwerkanalyse der deutschsprachigen Alpenschutzbewegung 1975-2005. Das Projekt entsteht unter der Betreuung von Prof. Dr. Martin Lengwiler an der Universität Basel und wird seit April 2017 vom Forschungsfonds Ellen Rifkin Hill finanziert.
 
Die Alpen-Initiative war der Trägerverein der Initiative „zum Schutz des Alpengebiets vor dem Transitverkehr“, die 1994 vom Schweizer Stimmvolk angenommen wurde und zu sehr kontroversen Reaktionen führte: Einige sahen darin die Abschottung der Schweiz von Europa, andere bejubelten sie als ökologischen Warnschuss vor den Bug der EU-Kommission. Die ITE hingegen wurde 1995 als Koordinationsplattform für die internationale Alpenschutz- und Anti-Transit-Bewegung gegründet und war während ihres Bestehens am Sitz der Alpen-Initiative angegliedert. Während die Alpen-Initiative heute immer noch aktiv für ihr Anliegen wirbt, ist die ITE weitgehend von der Bildfläche verschwunden.
 
Das Projekt untersucht die komplexen europapolitischen Aushandlungsprozesse, die sich häufig in einem konfliktiven Feld mit unterschiedlichen Akteuren auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene abspielen, anhand der Auseinandersetzungen um die europäische Alpentransitpolitik mit einem komparativen Fokus auf Österreich und die Schweiz zwischen den 1970er und den 2000er Jahren. Gestützt auf einen netzwerkanalytischen Zugang untersucht das Projekt das Spannungsfeld zwischen den politischen Akteuren auf der einen und den zivilgesellschaftlichen Vertretern der deutschsprachigen Alpenschutzbewegung auf der anderen Seite. Im Vordergrund steht die Frage, in welchem Ausmass und mittels welcher Netzwerke die Umweltbewegung die europapolitischen Entscheidungen auf nationaler und supranationaler Ebene beeinflusst hat. Mit der deutschsprachigen Alpenschutzbewegung untersucht das Projekt eine soziale Bewegung im Alpenraum, die sich seit den 1970er Jahren für den Schutz des Alpengebiets einsetzt.


Die Vereinszeitung der Alpen-Initiative zum Startschuss der Unterschriftensammlung 1989

Zwar ist der Alpenschutz als solcher kein Phänomen der letzten 50 Jahre: Bereits seit 1952 setzt sich die Internationale Alpenschutzkommission (CIPRA) als internationales Gremium für den Erhalt dieses Naturraumes ein. Überdies lässt sich die Alpenschutzidee bis in die Nationalparkdebatte Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Jedoch erst in den 1970er Jahren – mit der Konjunktur des Begriffs der „Ökologie“ und dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen – nahm der Alpenschutz eine neue gesellschaftliche Dimension an. In den 1980er Jahren häuften sich in den österreichischen und schweizerischen Alpenregionen Proteste und Widerstände gegen Grossprojekte wie Wasserkraftwerke oder Autobahnen, besonders aber gegen den stark zunehmenden Transitverkehr durch die Alpen. Diese alpenweite soziale Bewegung bestand aus vielen Protestgruppen, die zuerst lokal aktiv und untereinander kaum vernetzt waren. Nach und nach wuchs dieser lokale Widerstand zusammen. In der Schweiz kann man diesen Prozess an der Lancierung der Initiative „zum Schutz des Alpengebiets vor dem Transitverkehr“ durch den Verein Alpen-Initiative 1989 festmachen, auf europäischer Ebene an der Gründung der Initiative Transport Europe 1995.
 
Dieser Prozess, in dem sich Alpenschutz und Alpenschutzbewegung von der nationalstaatlichen auf die transnationale Ebene ausweiteten, wird mit dem theoretischen Konzept der „Europäisierung“ analysiert: Ulrike von Hirschhausen und Kiran Patel definieren Europäisierung als nicht teleologischen, nicht uniformen und nicht zielgerichteten Prozess, sondern als „a complex, multidirectional and open process of intra-European entanglement, exchange and cooperation that also comprises counter-tendencies to these developments.“ (1) Damit überwinden sie die politik- und rechtswissenschaftliche Definition, die Europäisierung als Angleichung nationalstaatlicher Normen an EU-Normen fasst, und stellen den Prozess des Aushandelns in den Fokus. Auch wird das Konzept um eine soziale und kulturelle Dimension erweitert.
 
Seit den 1970er Jahren lässt sich bei den Akteureninnen und Akteuren der Alpenschutzbewegung die diskursive Auflösung der Staatsgrenzen im Alpenraum zugunsten eines Raumkonzepts der „europäischen Alpen“ beobachten. Diese Art von Europäisierung kann als „Übergabe“ der Alpen an den Souverän der Europäische Gemeinschaft gedeutet werden. Ebenso gut aber umgekehrt: als Positionierung der Alpen als eigenständiger politischer Akteur im „Europa der Regionen“. Innerhalb der Alpenschutzbewegung lassen sich beide Deutungen beobachten. Die Europäisierung der Alpen fand in einem komplexen Umfeld von Wissenserzeugung (Geografie und Umweltwissenschaften), Globalisierungsprozessen (insbesondere die Wahrnehmung der Welt als interdependentes „Ökosystem“) und sozioökonomischem Wandel statt. Dabei spielte die Alpen-Initiative eine zentrale Rolle, indem sie die Politisierung des Alpenschutzes vorantrieb.
 
Der Verein Alpen-Initiative entwickelte sich nach seiner Gründung 1989 zu einer Organisation von ausserordentlich heterogenen Individuen und Gruppen in der Schweiz und bald auch ausserhalb der Schweiz. Mit einer historischen Netzwerkanalyse (2) trachtet das Projekt danach, zu belegen und aufzuzeigen, dass die Alpen-Initiative – und die gesamte Alpenschutzbewegung – sich nicht nur aus nostalgischen Städtern und antimodernistischen Berglern zusammensetzte: Die Alpenschutzbewegung entwickelte ihre Dynamik, weil ihre Mitglieder verschiedenen Milieus entstammten. Auf theoretischer Ebene geht die Netzwerkanalyse davon aus, dass Relationen, im gegebenen Fall soziale Beziehungen, die Grundlage für den Transfer von Ideen bilden und damit konstitutiv für die Bildung von Gruppen und Diskursen sind. Soziale Netzwerke werden als Beziehungsgeflecht einzelner Personen verstanden, die untereinander in Kontakt stehen. Die Person als Handlungsträger steht dabei im Zentrum des Interesses, ist aber für die Analyse gleichwohl innerhalb sozialer Strukturen situiert. Dieser Ansatz erlaubt es, dem historischen Akteur Entscheidungsfreiheit zuzugestehen und die Einbettung in Strukturen adäquat zu berücksichtigen. Damit schafft er die methodische Voraussetzung für die Verbindung zwischen akteurszentrierten und strukturtheoretischen Herangehensweisen. Diese Methode eignet sich gut für die analytische Umsetzung der theoretischen Konzeption sozialer Bewegungen, welche diese als flexible Strukturen definiert und die Beteiligung von Akteuren durch Teilnahme, nicht durch formale Zugehörigkeit festlegt. (3)
 
Das Schweizerische Sozialarchiv sammelt schon lange Dokumente rund um den Verein Alpen-Initiative, darunter Broschüren und Flugschriften (QS 98.0 * Alp) sowie Zeitungsausschnitte rund um den Schwerverkehr und die Initiative „zum Schutz des Alpengebiets vor dem Transitverkehr“ (ZA 98.3 * 3). Mit dem Vereinsarchiv der Alpen-Initiative übernahm das Sozialarchiv sowohl die Akten des Vereins Alpen-Initiative (Ar 610) als auch des Vereins Initiative Transport Europe (Ar 611). Beide Archivbestände bieten ausführliches Quellenmaterial zur Organisationsstruktur und den Aktivitäten sowie den Korrespondenzen der beiden Vereine. Sie sind für das Forschungsprojekt von grundlegender Bedeutung. Von besonderem Interesse sind die Sitzungsprotokolle der Vereine: Sie erlauben einen tiefen Einblick in die internen Prozesse der Entscheidfindung, der diskutierten Themen und der Kontroversen, wie sie allein aus Publikationen und Pressedokumenten nicht zu entnehmen sind. Strategische Entscheidungen werden nachvollziehbar. Dann erlauben die Protokolle überhaupt erst die Anwendung einer Netzwerkanalyse: Teilnehmerlisten ermöglichen, den Kontakt der AkteurInnen untereinander über einen längeren Zeitraum zu rekonstruieren. Aus diesen Treffen lassen sich Beziehungen ableiten, die, ergänzt mit ähnlichen Quellen wie Teilnehmerlisten von Expertentagungen, eine umfangreiche Rekonstruktion der personellen Netzwerke der Alpenschutzbewegung erlauben.
 
Natürlich sind diese formalisierten (4) Daten mit Vorsicht zu geniessen, denn die rekonstruierten Netzwerke bleiben lückenhaft. Ausserdem erlauben sie nur Annahmen über tatsächliche persönliche Beziehungen oder über deren Stärke und Schwäche. Dennoch lässt sich durch die Menge an erhobenen Daten (rund 1'000 AkteurInnen, 5'000 Ereignisse und 20'000 Beziehungen) auf das Vorhandensein eines längerfristigen Austauschs zwischen AkteurInnen schliessen. Die quantitative Analyse dieser Netzwerkdaten kann aber im gegebenen Fall nur als Grundlage zur Diskussion von Thesen dienen und muss mit qualitativen Analysen ergänzt werden.
 
Mit der Finanzierung des Dissertationsprojekts leistet der Fonds Ellen Rifkin Hill einen Beitrag zur europäischen Geschichte und zur Geschichte der Europäischen Integration. Das Projekt wirft nicht nur einen neuen Blick auf die Rolle der Schweiz und der Alpen im Prozess der Europäischen Integration, sondern berücksichtigt auch die Bedeutung sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Akteure für eine „Europäisierung von unten“.
 
Romed Aschwanden (Universität Basel)
 
1. Von Hirschhausen, Ulrike; Patel, Kiran: Europeanization in History: An Introduction. In: Conway, Martin; Patel, Kiran (Hg.): Europeanization in the twentieth century: historical approaches. New York 2010, 4.
 
2. Zur historischen Netzwerkanalyse vgl. Lemercier, Claire: Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie? In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23 (1), 2012, 16–41; Gamper, Markus; Reschke, Linda; Düring, Marten (Hg.): Knoten und Kanten III. Soziale Netzwerkanalyse in Geschichts- und Politikforschung. Bielefeld 2015.
 
3. Die klassische Definition von Dieter Rucht: „Eine soziale Bewegung ist ein Netzwerk von Individuen, Gruppen und Organisationen, das, basierend auf einer kollektiven Identität, einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen versucht (oder sich einem solchen Wandel widersetzt) und sich dazu des öffentlichen Protests bedient." (Rucht, Dieter: Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt a.M./New York 1994, 76.)
 
4. «Formalisiert» bedeutet in diesem Kontext, dass die Textquellen in Zahlen übersetzt wurden, um vom Computer berechnet werden zu können.


Buchempfehlungen der Bibliothek:


Marthe Gosteli, um das Jahr 2000 (Quelle: Gosteli-Stiftung)

Franziska Rogger: Marthe Gosteli – wie sie den Schweizerinnen ihre Geschichte rettete. Bern, 2017
(Signatur 136255)

Am 7. April diesen Jahres ist Marthe Gosteli im Alter von 99 Jahren gestorben. Nach ersten beruflichen Erfahrungen im Medienbereich während und nach dem 2. Weltkrieg stellte sie sich ab Mitte der 1960er Jahre ausschliesslich in den Dienst der Frauenbewegung und trug durch ihre Tätigkeit in verschiedenen Frauenvereinen massgeblich zur Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 bei. Bekannt ist auch die von ihr 1982 gegründete Gosteli-Stiftung in Worblaufen, die Trägerin des Archivs zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung ist.

In ihrem kurz nach dem Tod Gostelis erschienenen Buch beleuchtet die Historikerin Franziska Rogger das Leben und die Tätigkeiten einer Frau, die aus einem wertkonservativen Bauernhaushalt stammte, ohne akademische Bildung prägend für die Frauengeschichte der Schweiz wurde und nicht zuletzt entscheidend daran beteiligt war, dass diese Geschichte nicht in Vergessenheit geriet.




Michael Steinbrecher, Günther Rager (Hrsg.): Meinung-Macht-Manipulation. Journalismus auf dem Prüfstand. Frankfurt am Main, 2017
(Signatur 136687)

Vor allem seit Beginn der Pegida-Demonstrationen in Deutschland sehen sich die etablierten Medien immer wieder mit dem Vorwurf der «Lügenpresse» konfrontiert. Ebenso ist die aktuelle, von beiden Seiten erstaunlich hysterisch und emotional geführte «Fake-News»-Debatte Symptom einer Glaubwürdigkeitskrise der Medien. Doch worin besteht der Kern dieser Kritik? Wie ist es um die Qualität des Journalismus wirklich bestellt? Sind Medienschaffende wirklich «von oben» gesteuert?

Die Professoren Michael Steinbrecher und Günther Rager gehen zusammen mit vierzehn jungen Journalist/innen der Technischen Universität Dortmund diesen und weiteren Fragen wohltuend sachlich auf den Grund. Sie liefern Fakten zum Verhältnis von Pluralität und Rudel-Journalismus, untersuchen die Berichterstattung zum Thema Rechtsradikalismus und zeigen Wege, wie der Journalismus im digitalen Zeitalter aus seiner Glaubwürdigkeitskrise herausfinden kann.

Susanne Brügger

 


Neuanschaffungen

Auch im Mai und Juni 2017 haben wir unseren Bestand weiter ausbauen können. Zu den Neuerwerbungen zählen in diesen Monaten Bücher, Zeitschriften u.a. Hier finden Sie eine komplette Auflistung aller aktuellen Neuerwerbungen - Mai/ Juni 2017.

Möchten Sie sich selbst einen Überblick über unsere stetig wachsende Sammlung verschaffen, so können Sie auf unserer Homepage die Suche Ihren genauen Bedürfnissen anpassen.

Gibt es etwas, was wir noch nicht haben? Kennen Sie einen Geheimtipp, den wir unbedingt in unser Angebot aufnehmen sollten? Wir freuen uns über Ihren Anschaffungsvorschlag.
 



Abteilung Bild + Ton: Neu online

Radioschule klipp+klang
(SozArch F 1032)

Die Radioschule klipp+klang organisiert in der Schweiz seit 1995 im Auftrag der Union nicht-kommerzorientierter Lokalradios (UNIKOM) und mit Unterstützung des Bundesamtes für Kommunikation (BAKOM) Aus- und Weiterbildungskurse für die Programmschaffenden der freien Radios und weitere Interessentinnen und Interessenten. Projekte im soziokulturellen und schulischen Bereich ergänzen das Profil von klipp+klang.

Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums 2015 entschied sich die Radioschule, das Audiomaterial aus Kursen, Kooperationen und Lehrgängen zu digitalisieren und zu erschliessen. Das Archivprojekt fand in Zusammenarbeit mit Memoriav, dem Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz, statt. Online verfügbar sind nun fast 800 Aufnahmen aus den Bereichen Aus- und Weiterbildung, Empowerment, Kinder-/Jugendradio und Kunstradio.


"We are family" (SozArch F 1040)

Margit Bartl-Frank hat 2015 und 2016 ausführliche Interviews mit ehemaligen Angestellten der Viscosuisse Widnau und Emmenbrücke geführt. Acht davon sind in Absprache mit den Interviewten im Sozialarchiv zugänglich.

Zwischen 1924 und 2005 produzierte das Werk in Widnau die Kunstfaser Viscose. Schweizweit waren auf dem Höhepunkt der Produktion Mitte der 1970er Jahre über 5‘000 Arbeiterinnen und Arbeiter bei der Viscosuisse tätig.

Margit Bartl-Frank hat in den Interviews den Schwerpunkt auf die Beziehungen der Arbeiter/innen untereinander gelegt – die Viscosuisse förderte den Austausch mit einem breiten Freizeitangebot. Ausserdem hat sie nach dem Gemeinschaftsleben der ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach der Pensionierung gefragt. Die Interviews waren Basis ihrer Master-Thesis unter dem Titel "We are family" an der HSLU (Design & Kunst, Master of Fine Arts, Art in Public Spheres).
 
Stefan Länzlinger
 
Neu im Archiv:
Urs Eigenmann: gesellschaftskritischer "Fernsehpfarrer"      (Ar 192)


«Sie sind als gemein-gefährlicher Hetzer geboren – und mischen sich in Sachen, die Sie nichts angehen – an Stelle für den Frieden zu beten.» So und noch heftiger konnten Reaktionen auf das «Wort zum Sonntag» ausfallen, wenn Priester Urs Eigenmann dieses hielt. Der Theologe römisch-katholischer Konfession mischte sich in Sachen ein, die ihn in seinem Verständnis sehr wohl etwas angingen. Er scheute sich nicht, auch vor grossem Publikum pointiert Stellung zu aktuellen sozialpolitischen Themen zu beziehen. Entsprechend interessant ist der Vorlass, der sich neu im Sozialarchiv befindet.

Eigenmann (*1946) steht in der Tradition der Befreiungstheologen und der religiösen Sozialisten. Nach seinem Studium in Theologie und Philosophie an den Universitäten Luzern und Münster promovierte Eigenmann in Freiburg mit einer Arbeit über den brasilianischen Erzbischof und Befreiungstheologen Dom Hélder Câmara. Als Pfarrer amtete Eigenmann unter anderem zwischen 1984 und 1996 in Neuenhof und Killwangen. Von 1986 bis 1991 war er Sprecher der Sendung «Wort zum Sonntag» am Schweizer Fernsehen.


Urs Eigenmann wird im "Sonntag" vom 13.11.1985 als Sprecher der Sendung "Wort zum Sonntag" vorgestellt


Anonyme Zuschrift als Reaktion auf Eigenmanns "Wort zum Sonntag" (1988)

«Ich gehöre zu dem Teil der 68er-Generation, dessen Marsch durch die Institutionen noch nicht in der Toscana geendet hat», pflegte sich Eigenmann zuweilen vorzustellen, wie er in einem Interview mit Willy Spieler ausführte (Neue Wege, Band 100, 2006). Zentraler Begriff in Eigenmanns Leben ist das «Reich Gottes». Die «Reich-Gottes-Theologie» war von Leonhard Ragaz (1868–1945), dem Pionier der religiös-sozialen Bewegung in der Schweiz, entworfen worden. Eigenmann diskutiert den Begriff und seine Konsequenzen für das Christentum und die Gesellschaft in der Publikation «Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit auf Erden» (SozArch Hf 1587) ausführlich. Im Interview mit Willy Spieler beschreibt er das «Reich Gottes» nicht als fixen Zustand oder «in sich geschlossenes Modell, das es zu verwirklichen gilt». Vielmehr enthalte es «Perspektiven, Leitlinien, Optionen», um «Verhältnisse heute zu beurteilen und zu gestalten». Die sozial-politischen Folgerungen: «Für Jesus geht es nicht um eine Verbesserung, sondern um eine Umkehr unserer Verhältnisse. Wenn er den Armen, und zwar den Bettelarmen, das Reich Gottes verheisst, dann sind Verhältnisse, in denen es diese Bettelarmen gibt, mit dem Reich Gottes nicht vereinbar. Dann bedeutet die radikale Umkehr, dass die Letzten die Ersten, die Ersten die Letzten sein werden.»

Seine politisch-religiöse Position, seine Kritik am «mittelständisch-bürgerlichen Christentum» sowie an Teilen der katholischen Kirche selbst trugen Eigenmann neben viel Lob zuweilen harsche Kritik ein. Im «Wort zum Sonntag» thematisierte Eigenmann etwa: Asylpolitik, die Schweiz im 2. Weltkrieg, Patriotismus, Imperialismus, Militarismus, die Abschaffung der Armee, Rassismus, Sexismus, Umwelt und Gentechnik, Energiepolitik, Armut und Chancengleichheit, die Ernennung von Bischof Wolfgang Haas. Die umfangreichen Reaktionen reichten von Beifall bis hin zu Morddrohungen, und die Programmverantwortlichen beim Schweizer Fernsehen sahen sich mit Konzessionsbeschwerden konfrontiert.


Anonyme Zuschrift als Reaktion auf Eigenmanns "Wort zum Sonntag" (1991)

Sämtliche 33 Reden von Eigenmann im Rahmen des «Wortes zum Sonntag», die Reaktionen darauf und diesbezügliche Korrespondenz sowie Zeitungsartikel zu Kontroversen finden sich im Vorlass von Urs Eigenmann. Ebenfalls enthält der Bestand die Manuskripte von über 650 Predigten und von zahlreichen Vorträgen. Umfangreich dokumentiert ist auch das Wirken von Dom Hélder Câmara (1909– 1999). Verschiedene Publikationen von Urs Eigenmann werden in die Bibliothek des Sozialarchivs aufgenommen.

Markus Gafner (Praktikant)
 

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