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bfe Newsletter No. 8 vom 21.11.2016
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Die Medien

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,

in unserem letzten Newsletter vom 07.04. diesen Jahres haben wir die Frage gestellt, wo angesichts der Verrohung der öffentlichen Sphäre und eines offenkundigen Erstarkens von nationalistischen und fundamentalistischen Tendenzen, eigentlich noch Interesse an ethnologischen Angeboten und Zugängen besteht. Seither ist die AFD mit stets zweistelligen Wahlergebnissen in fünf weitere deutsche Landesparlamente eingezogen. Die Türkei ist auf dem Weg in die Diktatur, Donald Trump ist der gewählte Präsident der USA und auf Aleppo fallen immer noch Bomben. Kulturkämpfe mit diffusen Verlaufslinien sind entbrannt.

Unsere pluralistische Gesellschaft ist herausgefordert - offenbar müssen wir eine neue Balance finden zwischen gesinnungsethisch argumentierenden "Multikuliti" Wunschvorstellungen und rückwärtsgewandten totalitären Modellen. Als freiberufliche Ethnolog_innen sind wir nah am Puls dieser Zeitenwende. Unsere Aufgabe besteht darin, genau hinzuhören und hinzusehen, Zwischentöne zu entdecken und mit durchdachten Konzepten zu überraschen.

Ein Transformationsprozess hat begonnen, der auch schmerzhaft sein wird. Damit manches so bleiben kann wie es ist, wird sich vieles ändern müssen. Es liegt auch an uns freiberuflichen Ethnolog_innen, diesen Prozess zu gestalten. Ein wacher, offener Blick auf die Welt mit soliden kulturtheoretischen und -historischen Kenntnissen wird heute dringender gebraucht denn je!


Mit herzlichen Grüßen aus dem bfe Vorstand

Thorolf Lipp, Anette Rein, Kerstin Volker-Saad

 

INHALRSVERZEICHNIS

1. Aus dem Vorstand
1.1 Rezepte gegen den Glaubwürdigkeitsverlust. bfe Vorstandsmitglied Thorolf Lipp organisiert erste ARD Programmwerkstatt  mit den Nonfiction Produzenten Mehr lesen...

1.2. Den Eisberg wahrnehmen. bfe Vorstandsmitglied Anette Rein skizziert Vermittlungsansatz für Begegnungen mit Geflüchteten.
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2. Neuer Förderbereich "Migration und kultureller Wandel" im BMBF
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3. Überleben in der Kultur- und Kreativwirtschaft: Zwei brandaktuelle Literaturtipps für Ethnolog_innen
3.1 Sperk, Anne: Die Hoffnungsvollen (2016).

3.2 Basten, Lisa: Wir Kreative! Das Selbstverständnis einer Branche (2016)

4. Vorstellung unseres Mitgliedes Dirk Bustorf, PhD (Ethnologe, Flüchtlingsmanager, Systemischer Coach)


 

1. Aus dem Vorstand

1.1 Rezepte gegen den Glaubwürdigkeitsverlust. bfe Vorstandsmitglied Thorolf Lipp organisiert erste Programmwerkstatt  zwischen ARD und Nonfiction Produzenten

Die Vorsitzende der ARD, Prof. Karola Wille, hat den Glaubwürdigkeitsverlust der ö/r Medien in  ihrer Antrittsrede zum wichtigsten Thema ihrer Amtszeit gemacht. Einen wesentlichen Befund hat sie gleich mitgeliefert - die Fernsehmacher hätten sich zu weit von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt. Für den Ethnologen und Filmemacher Thorolf Lipp, Mitglied sowohl im Vorstand des bfe als auch im zahlenstärksten deutschen Filmverband AG DOK, eine Steilvorlage. Er griff diesen selbstkritischen Befund auf und nahm der ARD Vorsitzenden auf der diesjährigen AG DOK Mitgliederversammlung das Versprechen ab, die Nonfiction-Produzenten zu einem offenen Meinungsaustausch einzuladen. Mehr als zweihundert Produzenten, Regisseure und Redakteure folgten der Einladung Anfang November. Mehr lesen...

1.2. Den Eisberg wahrnehmen. bfe Vorsitzende Anette Rein skizziert Vermittlungsansatz für Begegnungen mit Geflüchteten.
Der Eisberg, so die bfe Vorsitzende Anette Rein in einem Gastbeitrag für "kultur verrückt", dem Magazin unseres Nachbarverbandes bfk, ist eine treffende Metapher für das Phänomen "Kultur". Denn Eisberge sind genauso veränderlich wie Traditionen und Kulturen. Sie verschmelzen mit anderen Eisbergen oder verändern ihre Form indem sie sich teilen. Ihr weitaus größter Teil bleibt verborgen und erschließt sich nicht auf den ersten Blick.
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2. Neuer Förderbereich "Migration und kultureller Wandel" im BMBF
Die Frage nach den Folgen von Migration für die deutsche Gesellschaft ist nicht zuletzt angesichts der stark gestiegenen Flüchtlingszahlen vordringlich. Ihre Beantwortung wird sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Europäische Union in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen. Einwanderung wird in Deutschland zwar mittlerweile mehrheitlich als gesellschaftliche Normalität anerkannt. Sie stellt die Gesellschaft aber auch vor große Herausforderungen. Das politische Ziel wird darin bestehen, eine allgemeine Teilhabe zu ermöglichen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern und zu stärken. Vor diesem Hintergrund fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Vorhaben, die den durch Migration ausgelösten gesellschaftlichen Wandel in den Mittelpunkt stellen und Forschung zu Migration und Integration unter dem Vorzeichen gesellschaftlicher Vielfalt in den Blick nehmen. Neben Universitäten und Forschungseinrichtungen sind auch kleine und mittelständische Unternehmen antragsberechtigt. Mehr lesen...


3. Überleben in der Kultur- und Kreativwirtschaft: Zwei brandaktuelle Literaturtipps für Ethnolog_innen:

3.1 Sperk, Anne: Die Hoffnungsvollen

Alex will Ethnologin werden, doch das Orchideenfach, in dem am Bedarf vorbei Massen ausgebildet werden, erweist sich als Sackgasse. Dabei hat sie früh gelernt, sich durchzuschlagen. Ein Abrisshaus ist preiswerte Bleibe, Ausgrabungen finanzieren ihr Studium und ihre Forschungen in Sibirien. Männer trudeln durch ihr Leben, bis sie sich für ihr Kind entscheidet. Nun hangelt sie sich von Projekt zu Projekt, während Anträge zum Lottospiel verkommen. Sie wird von Stipendien und Drittmitteln finanziert. Eine unbefristete Stelle ist unerreichbar, und wenn sie ihrer Tochter ein halbwegs normales Leben bieten will, muss sie zur Sozialbetrügerin werden.
Anna Sperk erzählt als Insiderin von der erschreckenden Situation junger Wissenschaftler heute. In einem Kaleidoskop von Einzelfällen zeigt sie die Auswirkungen deutscher Wissenschaftspolitik und die Sehnsucht nach einem erfüllten, selbstbestimmten Leben.
544 S., Mitteldeutscher Verlag, Halle/ Saale (2016), ISBN 978-3-95462-750-9
Zur Autorin: Anna Sperk, geboren 1974 in Oelsnitz/Vogtland, ist promovierte Ethnologin und Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Derzeit lebt und arbeitet sie in Halle (Saale). Der Roman »Die Hoffnungsvollen« wurde vom Land Sachsen-Anhalt mit einem Autorenstipendium gefördert. Dieser Roman ihr belletristisches Debüt.

3.2 Basten, Lisa: Wir Kreative! Das Selbstverständnis einer Branche
Kreative Projektarbeit wird als Zukunftsmodell der Arbeitswelt gehandelt: flexibel, innovativ, teambasiert, erfüllend. Allerdings geht sie bislang in weiten Teilen mit Prekarisierung und zunehmender Ungerechtigkeit einher. Lisa Basten stellt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Selbstverständnis als „Kreative“ und der Akzeptanz von Arbeitsbedingungen jenseits etablierter Standards. Eingebettet in die Diskussion um Kreativität als gesellschaftlichen Wert und als wirtschaftlichen Faktor wird der Fokus auf die Beschäftigten gelegt, insbesondere auf die Film- und Fernsehschaffenden. Deren Realität wird genau betrachtet: von Gagen über die Rolle der Sendeanstalten bis hin zum Urheberrecht und der Gewerkschaft. Das Selbstverständnis der Kreativen zu verstehen kann Grundlage sein für funktionierende Formen selbstbestimmten Arbeitens jenseits des Normalarbeitsverhältnisses – für Zukunftsmodelle eben.
162 S.; Frank & Timme, Berlin (2016), ISBN 978-3-7329-0263-7
Zur Autorin: Lisa Basten arbeitet als freie Texterin. Nach einem Komparatistik- und Soziologiestudium war sie in links-alternativen Projekten in Europa unterwegs und landete schließlich in der Medienbranche. Mit einem Masterabschluss an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF Babelsberg) wandte sie sich dem Thema „projektbasierte Arbeit“ zu. Seitdem liegt ihr Forschungsfokus auf dem Wandel der Arbeitswelt, Möglichkeiten kollektiver Organisation und Mitbestimmungsprozessen der Zukunft.


4. Vorstellung unseres Mitgliedes Dirk Bustorf, PhD (Ethnologe und Leiter einer Erstaufnahme für Asylsuchende in Hamburg)

Ethnologen mittendrin
Die große Einwanderungsbewegung des letzten Jahres hat die beruflichen Möglichkeiten für Ethnologen in Deutschland ausgeweitet. Seit November arbeite ich in einem Hamburger öffentlichen Unternehmen, dessen Geschäftsbereich Flüchtlingsunterbringung in kurzer Zeit enorm wachsen musste. Bei der Einstellung des dafür benötigten Personals wurde die bisherige Fokussierung auf Sozialarbeiter und Sozialpädagogen zwar nicht gänzlich aufgegeben, aber in der Praxis öffnete man sich für ein breites Spektrum von Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaftler. Ein Ethnologie-Studium wurde in den Stellenanzeigen als Qualifikation alternativ zur Sozialpädagogik explizit erwähnt! Um die zunächst meist sehr praktischen oder administrativen Aufgaben in der Flüchtlingsunterbringung zu meistern, wurde bei vielen sozialen Trägern eine beachtliche Zahl von Ethnologen eingestellt. Diese gehören zusammen mit Islamwissenschaft, verschiedensten Regionalwissenschaften und Sozialwissenschaft zu den stärksten Fächer neben den klassischen sozialen Berufen im Flüchtlingsmanagement. Viele Kollegen haben erst vor kurzem den BA oder MA-Abschluss in Ethnologie gemacht. Dazu kommen solche, die Ethnologie im Nebenfach studiert haben. Mit einer Promotion und langjähriger Berufserfahrung in Forschung und Lehre bilde ich eine Ausnahme. Unabhängig von ihrem Studienfach können sämtliche im letzten Jahr eingestellte Kollegen in irgendeiner Form inter- bzw. transkulturelle Kompetenz in ihrem Lebenslauf nachweisen. Sehr viele haben Kenntnisse in außereuropäischen Sprachen. 
Die Ethnologie als "Wissenschaft vom kulturell Fremden" und ihre Verbindung mit der Migrations- und Migrantenforschung könnte eigentlich die Leitwissenschaft für die enorme transkulturelle Erfahrung sein, die unsere Gesellschaft zurzeit macht. Als institutionalisiertes Fach erscheint die Ethnologie mir jedoch mehr oder weniger unvorbereitet für einen größer angelegten kulturellen Vermittlungseinsatz im eigenen Land. An ihr Potential, eine führende Rolle für die anderen Fächer, in der Politikberatung und im zivilgesellschaftlichen Diskurs zu spielen, kommt sie kaum heran.
Im Gegensatz dazu habe ich den Eindruck, dass die Kollegen, die vor Ort im Flüchtlingsmanagement arbeiten durch ihre ethnologische Ausbildung und Berufserfahrung bestens vorbereitet sind für die breite Aufgabenpalette im Sozial- und Unterkunftsmanagement, in der Freiwilligenkoordination sowie in der sich erst langsam entwickelnden eigentlichen Integrationsarbeit. Die Offenheit, Selbstverständlichkeit, Reflektiertheit und das Hintergrundwissen mit denen sie die tägliche interkulturelle Kommunikationsarbeit leisten gehören zu ihren Schlüsselkompetenzen. Die teilnehmende Beobachtung als Haltung/Praxis (weniger als Methode - dafür ist keine Muße) hilft, sich schnell in sehr dynamische Arbeits(-kultur-)situationen und in Gruppen- und gruppenübergreifenden Prozessen zurechtzufinden und deren Strukturen zu erkennen.
Als ich meine Stelle antrat, waren der Höhepunkt der "Flüchtlingswelle" und jener der allgemeinen Überforderung noch nicht überschritten. Mich verschlug es zunächst in eine Notunterkunft in einer Halle mit 300 Menschen. Die Situation der Geflüchteten war prekär, das wenige Personal mehr oder weniger frisch eingestellt und die Infrastruktur noch am Anfang. Vor Ort mussten zunächst grundlegende administrative Strukturen und Arbeitsabläufe implementiert werden. Zurzeit bin ich Leiter einer Erstaufnahmeeinrichtung in der Hamburger City, die ausschließlich erwachsenen Männern vorbehalten ist. Seit ich in der Flüchtlingsarbeit gelandet bin, staunte ich, wie sehr der Erfahrungsschatz als Ethnologe mir in diesem völlig anderen Kontext hilft. Mein bisheriges Berufsleben war geprägt durch viele Jahre des Pendelns zwischen einem  Uni-Leben im Herausgeberteam des Forschungs- und Publikationsprojekt Encyclopaedia Aethiopica an der Universität Hamburg und Feldforschungen im ruralen Äthiopien. Nach der Promotion und dem inhaltlichen Abschluss des Enzyklopädie-Projekts verbrachte ich drei Semester als Associate Professor for Social Anthropology an der äthiopischen Universität Gondar. Dort brachte ich einen Studiengang Migration Studies auf den Weg und führte eine Forschung zum Umweltbewusstsein am Ufer des Tanasees und zum kulturellen Hintergrund lokaler selbstverwalteter Naturschutzgebieten durch. Nach meiner Zeit in Gondar beschäftigte ich mich als Freiberufler im Auftrag einer kleinen Naturschutzorganisation mit der sozialen und kulturellen Einbettung von Biosphärenreservaten und Nationalparks in Äthiopien. Dann gab mir die so genannte „Flüchtlingskrise“ die Chance, das Thema der Migration einmal in vorderster Reihe wieder aufzugreifen. Erstaufnahmen sind multiethnische Transitzonen des Wartens, Hoffens und Bangens in denen es bestenfalls eine Vorbereitung auf Integration geben kann. Die eigentliche Herausforderung für die deutsche Gesellschaft kommt erst noch. Die eigentliche Arbeit für uns Ethnologen zusammen mit allen anderen kann in der Entwicklung eines Integrationsmanagements liegen, welches ein echtes gesellschaftliches Change Management darstellt, denn Integration kann nur geschehen, wenn alle Seiten sich verändern.


(Wenn Sie mehr über Dirk Bustorf und die ethnologische Fachkompetenz anderer bfe-Mitglieder erfahren möchten, dann besuchen Sie bitte seine Webvisitenkarte auf unserer Homepage)
 

Afghanischer Junge bei einer Kunstaustellung Millerntor Gallery im Hamburger St. Pauli-Stadion
(Foto: Dirk Bustorf)
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www.bundesverband-ethnologie.de | Redaktion: Thorolf Lipp, Anette Rein |
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