Liebe Leserinnen und Leser,
die aktuellen Freiheitsbeschränkungen, so bemerkte Angela Merkel gestern in ihrer Regierungserklärung, sind eine „demokratische Zumutung“. Das stimmt zweifellos. Deshalb zwingen sie uns, bei jeder beschlossenen Maßnahme sehr genau hinzuschauen. Und vor allem darauf zu achten, dass sie alle zeitlich tatsächlich nur auf den pandemischen Ausnahmezustand beschränkt bleiben und nicht zum Einfallstor eines andauernden „Durchregierens“ werden. Gleichzeitig sind Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbot aber auch eine Nagelprobe für unser eigenes Freiheitsverständnis.
Denn eines wird in diesen Wochen mehr als deutlich: Jener, wie es der SZ-Journalist Gustav Seibt jüngst in einem anderen Kontext nannte, „Auspuff- und Schnitzelliberalismus“, der Freiheit lediglich als Abwesenheit von Einschränkungen, ja als „Ich kann machen, was ich will“-Mentalität begreift, ist eine radikale Verkürzung dessen, was Freiheit in einer Demokratie bedeuten kann – und muss. Genau diesem Thema widmet sich auch Claus Dierksmeier in unserem ersten Denkanstoß. Darin argumentiert er: Gerade in der Pandemie zeigt sich, dass wir kein quantitatives, sondern ein qualitatives Verständnis von Freiheit brauchen. Letztere bestehe dabei nicht einfach in der Summe individueller Optionen, sondern in der Ermöglichung gegenseitiger Freiheit. Sprich: Kontaktbeschränkungen mögen dem einzelnen Verzicht abnötigen, schützen aber die Freiheit des anderen, ja, sichern sein nacktes Überleben.
Wobei die Frage der Freiheit sich dieser Tage nicht nur hinsichtlich konkreter Infektionsschutzmaßnahmen, sondern auch mit Blick auf die ökonomische Bewältigung der Corona-Krise stellt. Denn all jene Kredite, die in Europa nun zur Abfederung des Konjunktureinbruchs aufgenommen werden, müssen irgendwann beglichen werden. Die Frage ist nur: von wem? Im Zuge der Finanzkrise, man erinnert sich, waren es europaweit vor allem die Bürgerinnen und Bürger, die durch Austeritätsmaßnahmen, also eine wirtschaftliche Form der Freiheitsbeschränkung, den Bail-out der Banken bezahlten. Dies, so argumentiert Jule Govrin in unserem zweiten Denkanstoß darf sich nicht wiederholen. Vielmehr brauche es jetzt neue Formen der Umverteilung – und zwar von oben nach unten.
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