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Antje Schrupp - Newsletter vom 20. April 2020

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Liebe Freund*innen und Leser*innen,

und plötzlich sind seit dem letzten Newsletter sechs Wochen vergangen, vier davon in einem sanften Lockdown – ja, das, was wir in Deutschland an Verboten haben, ist sanft und seidig im Vergleich zu dem, was in Italien, Spanien oder Frankreich leider notwendig ist. Trotzdem ist die Situation natürlich sehr unterschiedlich, je nach der persönlichen Lebenssituation: Lebensunterhalt, Wohnsituation, Beziehungsnetz, Gesundheit... Ich hoffe, es geht euch allen soweit gut. 

Der wesentliche Faktor, warum wir es hierzulande noch vergleichsweise gut erwischt haben, war die Zeit. Es dauerte einfach nicht so lang von den ersten Covid-19-Fällen bis zu den Kontaktsperre-Maßnahmen. Jeder Tag früher, der am Anfang einer Epidemie reagiert wird, wirkt sich nun einmal ganz erheblich auf das Folgende aus. Wir hatten schlicht Glück, dass wir vorgewarnt waren UND dass unsere Regierung relativ schnell und klar reagiert hat. Auf diese Weise hat sich die Zahl der täglich neuen Corona-Fälle in Deutschland (und damit auch die Zahl der Behandlungsbedürftigen und der Todesfälle) auf einem viel niedrigeren Niveau stabilisiert als anderswo.

Hoffen wir mal, dass es so bleibt. Denn mit um die 60.000 aktiven Infektionsfällen kann es natürlich jederzeit wieder zu einer exponenziellen Verbreitung kommen. Leider haben wir es verpasst, eine Eindämmung zu schaffen - dazu wären noch drei, vier Wochen strikte Kontaktsperre nötig gewesen. Doch das war offenbar politisch nicht durchsetzbar - zu viele Leute riefen nach einer Aufhebung von Verboten, sobald sich abzeichnete, dass sich in Deutschland vorerst keine Leichenberge stapeln würden.

Wir müssen uns nun also auf ein bis zwei Jahre „Stop and Go“ einrichten - bis ein Impfstoff da ist, wird ein „normales“ Vor-Corona-ähnliches Leben nicht möglich sein. Ehrlich, an den Gedanken muss ich mich noch gewöhnen. Immerhin wird es im Verlauf der Zeit wahrscheinlich nach und nach besser. Irgendwann sind wieder genug Masken und Schutzanzüge da, irgendwann wird es Medikamente geben, die den Verlauf der Krankheit abmildern, irgendwann werden wir genauer wissen, wie die Übertragungswege funktionieren, irgendwann kommt es uns weniger „weird“ vor, in Supermärkten und Straßenbahnen Masken zu tragen, irgendwann wird man auch einfach mehr über die Krankheit wissen und entsprechend handeln.

Das Leben geht also weiter, aber wie? In den kommenden Wochen wird es vor allem darum gehen, wie genau dieser neue Zustand ausgestaltet wird. Welche Maßnahmen ergreifen wir, um die "natürliche" Ausbreitungsrate des Virus (3-4 Ansteckungen pro infizierter Person) auf ein verträgliches Maß zu drücken (maximal 1 Ansteckung pro infizierter Person)? Es ist das „Gesamtbudget“, das hier zählt: Jeder verhinderte Infektionsherd an der einen Stelle ermöglicht mehr Öffnung an einer anderen.

Wir müssen also Prioritäten setzen. Was wir an der einen Stelle lockern, das müssen wir dafür an einer anderen Stelle beschränken. Ich wünsche mir sehr, dass diese Debatten nicht von Egoismus geprägt sind, nach dem Motto: „Ich bin superwichtig, mein Bedürfnis muss unbedingt befriedigt werden“ oder „Wenn die dürfen will ich aber auch". Sondern dass wir dabei uns von der Suche nach dem Allgemeinwohl leiten lassen: Was ist für unsere Gesellschaft wichtig? Was kann sich eher hinten anstellen?

Akut wichtig sind meiner Ansicht nach Besuche bei Hochaltrigen oder Demenzkranken in Heimen sowie bei Schwerkranken. Dass gerade diese Menschen jetzt allein gelassen werden, obwohl sie doch mehr als alle anderen Beistand brauchen, kann ich nicht so recht fassen, und die Behauptung, es geschehe zu ihrem eigenen Schutz, finde ich doch etwas scheinheilig. Jedenfalls kann das kein Zustand sein, der Monate oder Jahre anhält. Im übrigen sind Besuche im Altenheim sogar in Schweden verboten, also dem Land, das sich ansonsten für seinen „lockeren“ Umgang mit der Epidemie rühmt.

Über vieles kann man natürlich streiten. Theater, Schulen, Shoppingmalls – was soll zuerst öffnen? Was kann länger schließen? Solidarität in diesen Tagen zeigt sich darin, zu überlegen, ob man die eigenen Interessen und Bedürfnisse nicht vielleicht noch etwas länger aufschieben kann, um anderen mehr Lockerung zu ermöglichen. Das gilt für Einzelpersonen genauso wie für Vereine, Religionsgemeinschaften und Institutionen. Jedenfalls werde ich in der kommenden Zeit an dieser Stelle sehr genau beobachten, wer wie agiert und argumentiert. 

Eine ganz entscheidende Stellschraube ist bei alldem natürlich die soziale Gerechtigkeit. Wer keine Existenzsorgen hat, kann gelassener sein, wenn der eigene Erwerbszweig epidemiebedingt für eine gewisse Zeit brach liegt. Jetzt zeigt sich, wie wichtig ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre. Denn es können eben wirklich alle jederzeit in die Lage geraten, dass die eigene wirtschaftliche Existenzgrundlage wegbricht. Und wenn man sich dann zumindest nicht über das Existenzminimum sorgen muss, ist das schon die halbe Miete - im wörtlichen Sinne. Hoffentlich erinnern wir uns bei der nächsten Runde sozialpolitischer Grundsatzreformen daran. 

Krisen erfordern Solidarität. Dass es eine unfassbare Schäbigkeit ist, was Europa und auch Deutschland sich mit den Flüchtlingslagern in Griechenland leistet, ist offensichtlich. Ebenso wird über europäische und internationale Solidarität noch einmal neu zu diskutieren sein. Es liegt viel anstrengende Politik vor uns.

Ich wünsche uns, dass wir möglichst gut durch diese Zeit kommen. Und niemanden zurücklassen.


 
 Neu im Internet 


Care, Corona und eine Politik der Beziehungen
Das Thema der Care-Arbeit, das Feministinnen schon seit Jahrzehnten diskutieren, ist inzwischen auch im allgemeinen Diskurs angekommen, und die durch den Coronavirus ausgelöste Pandemie hat diese Sichtbarkeit jetzt nur noch einmal verstärkt. Umso wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, dass „Care“ nicht einfach nur ein weiteres ökonomisches Thema ist, sondern etwas mit unserer gesamten Kultur, der symbolischen Ordnung und unseren Beziehungen zu tun hat. (Link zum Artikel)

Besondere Umstände: Corona-Edition
Eva, Benni und ich haben wieder gepodcastet, Thema war natürlich Corona. Hört gerne rein: (Link zur Episode)

Für unseren nächsten Podcast haben wir als Thema vorgesehen die Frage, inwiefern Anarchismus (und dezentrale, herrschaftsfreie Gesellschaftsformen) in der Lage sind, auf akute Handlungsnotwendigkeiten wie Epidemien zu reagieren. Falls Ihr dazu Anregungen habt (oder schonmal in das Thema reinlesen wollt), hier entlang (Link zum Blogpost)

Warum war Hannah Arendt keine Feministin?
Im RBB gab es eine Sendung dazu, warum Hannah Arendt keine Feministin war, auch von mir ein sind paar (kurze) O-Töne drin. Sehr hörenswert (Link zur Sendung)
Das vollständige Interview steht als Transkript in meinem Blog. (Link zum Blogpost)

Anarchismus und reproduktive Selbstbestimmung
Reproduktive Selbstbestimmung bedeutet mehr als nur das Recht auf Abtreibung. Dazu hab ich etwas für die GWR geschrieben. (Link zum Artikel).

Zeitstrahl Feminismus
Für ein Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung habe ich schon vor längerer Zeit in kleinen Kurz-Videos einige Schlüsselbegriffe des Feminismus erklärt. Jetzt steht die Seite online: (Link zur Seite)

Die Lehren von He Yin Zhen
He-Yin Zhen (1884-ca. 1920) war eine Anarchistin und Feministin, die im Westen völlig unbekannt ist, deren Gesellschaftstheorie aber viele Themen anspricht, die bis heute höchst aktuell sind. Für die GWR habe ich etwas über sie geschrieben (Link zum Artikel).

Dudes besprechen unseren Feminismus-Comic
Im (englischsprachigen) Podcast "Deconstructing Comics" war schon vor einiger Zeit unsere "Kleine Geschichte des Feminismus" Thema. Ich habe mich beim Hören der Episode sehr amüsiert (Ihr könnt bis ca. Minute 5 vorspulen) (Link zum Podcast)

Angeregt davon habe ich noch etwas dazu gebloggt, warum es völlig okay ist, dass zwei Männer einen Feminismus-Comic besprechen (Link zum Blogpost)

Der Tod hat nicht das letzte Wort?
Diese Floskel ist gerade rund um Ostern häufig zu hören. Ich mag sie nicht, hier habe ich aufgeschrieben, warum. (Link zum Blogpost).


Termine


Frauen und Macht / 22. April
Was, wenn wir die Macht gar nicht brauchen, um frei zu sein? Und nicht nur "wir" Frauen, sondern alle Menschen? Wenn Pluralität ohne Hierarchien möglich wäre, und Differenz ohne Krieg? Zum Thema "Frauen und Macht - warum sie sich gegenseitig nicht mögen" spreche ich als Auftakt einer (Online)-Ringvorlesung an der Uni Marburg am Mittwoch, 22. April, um 20 Uhr. Ich gehe davon aus, dass sich da alle Interessierten einwählen können. (hier teilnehmen) -  (Link zur Ankündigung)

Bedingungsloses Grundeinkommen / 11. Mai
Brauchen wir ein neues Arbeitsverständnis? Podium zum Bedingungslosen Grundeinkommen mit Christoph Butterwegge und mir am Montag, 11. Mai, um 19 Uhr in der Evangelischen Akademie am Römerberg - voraussichtlich als Livestream (Link zur Veranstaltung)


Alle Termine wie immer auch hier







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