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Illustration: © Catherine Meurisse

Liebe Leserinnen und Leser,

in den letzten Wochen stieß man in den Medien immer wieder auf sie: Verschwörungstheoretiker. Menschen, die beispielsweise glauben, dass Bill Gates uns allen Chips einpflanzen will, eine großangelegte „Zwangsimpfung“ zur allgemeinen Gehirnwäsche in Planung wäre oder ein elitärer Geheimbund das Coronavirus in die Welt gesetzt hätte. 

Gleichwohl darf man bei der Diskussion über Verschwörungstheorien eins nicht vergessen: Auch wenn sie in Zeiten der Pandemie eine kleine Renaissance erleben, gibt es sie heute weniger denn je. Oder andersherum gesagt: Wir vergessen gerne, wie weit verbreitet Verschwörungstheorien bis vor wenigen Jahrzehnten noch waren. In ihrer modernen Form sind diese, das betont der Kulturwissenschaftler Michael Butter in seinem 2018 erschienenen Buch „Nichts ist, wie es scheint“, paradoxerweise im Zuge der Aufklärung entstanden. Zum einen, weil sie für ihre Verbreitung jenes moderne Mediensystem brauchten, das sich erst in Folge der Französischen Revolution entwickelte. Zum anderen, weil Verschwörungstheorien, so die Definition des Philosophen Karl Popper, „eine Säkularisierung des Aberglaubens“ sind, also ein Sinngebungssystem darstellen, das erst durch den Siegeszug des Rationalismus entstanden ist. 

Dementsprechend arbeiten moderne Verschwörungstheorien stets mit pseudowissenschaftlichen Argumenten. Ganz gleich ob antisemitisch, antikommunistisch oder antiamerikanisch motivierter Konspirationismus: Vermeintliche „Beweise“, „Dokumente“ oder „Berechnungen“ spielen eine zentrale Rolle. Und damit waren Verschwörungstheorien bis in die 1980er relativ erfolgreich. Nicht nur verbreiteten sie sich in allen Bevölkerungsschichten vergleichsweise weit, auch die Mächtigen der Welt waren von ihnen vereinnahmt. Hatte sich der französische Präsident François Mitterand beispielsweise von einer Astrologin beraten lassen, gab es, so schreibt Michael Butter, „von George Washington bis Dwight D. Eisenhower […] vermutlich keinen amerikanischen Präsidenten, der nicht an Verschwörungstheorien glaubte.“ Das heißt freilich nicht, dass der heutige Glaube an den Konspirationismus zu vernachlässigen oder das verschwörungstheoretische Kokettieren eines Donald Trump harmlos wäre. Es zeigt jedoch, dass das alles nicht neu ist. 

Ebenso wenig neu ist jene öffentliche Berührungsangst, die wir gerade im Zuge der Corona-Pandemie erleben. Wie meine Kollegin Svenja Flaßpöhler mit Verweis auf Elias Canetti in unserem heutigen Denkanstoß argumentiert, offenbart sich im Willen zum Abstand halten vielmehr ein menschliches Grundmerkmal.

Unseren Newsletter und die Denkanstöße zur Corona-Krise stellen wir Ihnen gerne kostenlos zur Verfügung. Wir freuen uns jedoch über Ihre Unterstützung durch ein Probeabo oder auf anderem Wege.

Alles Gute!

Ihr Nils Markwardt
(Leitender Redakteur)

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Denkanstoß von Svenja Flaßpöhler 

Abstand halten!

In seinem Hauptwerk „Masse und Macht“ beschreibt Elias Canetti die menschliche „Berührungsfurcht“ — und lässt die Folgen der Corona-Krise in einem neuen Licht erscheinen.

Foto: John Cameron (Unsplash)

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 Netzlese 

• In einem ausführlichen Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärt die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn, warum der urpsrünglich geohistorische Begriff des „Anthropozän“ gerade eine Konjunktur erlebt, wieso das auch für die Corona-Krise von Bedeutung ist und weshalb der Menschheit ein angemessenes Katastrophenbewusstsein ökologisch helfen würde. 

• In der FAZ argumentieren die Soziologin Carolin Amlinger und Soziologe Oliver Nachtwey, dass nicht wenige Intellektuelle im Zuge der Pandemie den Maßstab der Kritik verloren haben und zunehmend zu dem geworden sind, was Max Scheler einst als „Ressentimentmensch“ bezeichnete.

 Zum Innehalten 

Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulkanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glücks angelegt

 — Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (1886)

 Und abseits von Corona? 

Im Reich der Geschwindigkeit

Kaum ein anderes Land wandelt sich derzeit so radikal wie China. Während in den hypermodernen Städten ein einzigartiger Leistungs- und Konkurrenzdruck herrscht, scheint in vielen entvölkerten Dörfern die Zeit wie stehen geblieben. Hartmut Rosa bereiste zwei Wochen das Reich der Mitte und zeichnet das Porträt einer gespaltenen Gesellschaft, die alles auf Aufstieg setzt. Doch zu welchem Preis?

Bild: © CC-by 3.0 Mstyslav Chernov

Zur Reportage
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