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11. November 2019 / Nummer 16

newsletter
Anlaufstelle für Dienstmädchen
Sinp'arispa
Trenzando
Ñañope

Bolivien: Sucre - Santa Cruz 
IBAN: CH13 0900 0000 6056 2232 2
Äusserungen der Zivilgesellschaft am Rand der UNO in Genf
Einen Versuch war es wert, dachte ich. Es war für mich eine grosse Ehre, zum Podium des Side Events zum Periodischen Rapport der UNO-Menschenrechtskommission eingeladen worden zu sein. Unsere langjährige Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit in Bolivien wird offensichtlich geschätzt und ernstgenommen. Zumindest von der Organisation, die zu dieser Nebenveranstaltung einlud, dem Centre Catholique International de Genève. Aber richtig wichtig war natürlich der offizielle Rapport selbst.
Die "Universelle Periodische Überprüfung" ist ein wichtiger Mechanismus des UNO-Menschenrechtsrats. Jeder einzelne der 192 Mitgliedstaaten wird im Rahmen eines vierjährigen Zyklus von den anderen Staaten hinsichtlich Menschenrechtsfragen überprüft. Letzten Dienstag tagte er im grossen Saal XX der Vereinten Nationen in Genf die Kommission zur Lage in Bolivien. Gespannt setzte ich mich neben die Leute des Centre Catholique in die hinteren Zuschauerreihen für die Rede des bolivianischen Justizministers. Ausführlich berichtete er über die Massnahmen und Erfolge der Regierung in den letzten 14 Jahren - nämlich seit Evo Morales in Bolivien an der Macht ist. Vieles ist einleuchtend und sicher auch wahr: Die grossen Anstrengungen gegen Diskriminierung im Land, die Aufwertung der indigenen Kulturen, die Alphabetisierungsanstrengungen, das Wirtschaftswachstum, die vielen neuen Strassen und Schulen, die in den letzten Jahren gebaut wurden, die neue Verfassung seit 2009, die modernen und breit angelegten Gesetze, usw., usw. Die indigene sozialistische Regierung hat tatsächlich sehr viel erreicht in Bolivien. Deshalb waren wir persönlich auch stark auf ihrer Seite, obwohl uns das nur Ärger einbrachte: einerseits von der Regierung selbst, die uns als "Amerikanern" das Leben schwer machte, und andererseits von der Opposition in Sucre, wo man 2007 nur hinter verschlossenen Türen sagen durfte, dass man der indigenen Regierung wohlgesinnt war. 
Aber das ist nun lange Jahre her...
Tatsächlich wurden in den letzten dreieinhalb Jahren - und um diese wäre es letzte Woche in Genf eigentlich gegangen - neue Strassen und Schulen gebaut, die Kinderarbeit verboten, etc. etc. Aber die Qualität des Bildungswesens, beispielsweise, steigt nicht durch die Anzahl der Gebäude. Und eine Verordnung über Frauenhäuser in allen Gemeinden hilft wenig, wenn es diese in den meisten Orten nicht gibt, oder dort, wo sie tatsächlich existieren, kein Geld für Mahlzeiten und kein Personal für die Opferbetreuung vorhanden ist. Und die eigens für den Schutz der Frauen vor Gewalt geschaffenen Polizeieinheit bringt auch nicht die erhofften Erfolge - die Zahl der Frauenmorde durch ihre Partner steigt horrend - wenn sie aus Leuten besteht, die keine indigenen Sprache verstehen, Körpergewalt in der Ehe grundsätzlich normal finden und ausserdem nur darauf warten, baldmöglichst in eine "bessere" Einheit versetzt zu werden.
Aber darüber spricht der Minister nicht. 
Er zählt endlos die vergangenen Erfolge und Zahlen auf. Natürlich ist er bemüht, auch neue Erfolge zu erwähnen. 
Aber an dieser Rückwärtsschau ändert es auch nichts mehr, dass am Montag, also am Tag vor seiner Ansprache, in Bolivien endlich noch rasch ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Gerichtsverfahren gerade in Prozessen in Zusammenhang mit Gewalt an Frauen beschleunigen soll.
"Gestern, am 4. Nov.", beteuert er. 
Gestern!, denke ich, und nicht nur ich. Um mich herum höre ich ein leises Raunen. Wie bitte? Bolivien steht seit den Wahlen, also seit drei Wochen, im Zeichen eines Generalstreiks und zahlloser Blockaden und Proteste. Praktisch nichts mehr im Land funktioniert. Die Situation eskaliert zusehends...
Endlich kommt dann die Runde an die Vertreter der anwesenden Staaten, auf den Bericht zu reagieren und Empfehlungen anzugeben, die Bolivien dann ggf. aufnehmen kann. Etliche loben einfach die Erfolge Boliviens. In der kurzen Redezeit von 1 Min. 20 Sek. bringen andere aber doch einige Verbesserungsvorschläge, Deutschland z. B., das für den Abbau von Ineffizienz wirbt, Canada, das sich Sorgen um die Situation von Frauen und Mädchen macht, Palästina, das für die Qualität der Bildung spricht. Costa Rica setzt sich für die Rechte der arbeitenden Jugendlichen ein und Uruguay erwähnt die Rechte der Hausangestellten usw., usw...
Die Schweiz und einige andere Staaten empfehlen, die Unabhängigkeit der Justiz zu verbessern und die Meinungsfreiheit in der Realität zu garantieren. Etliche Länder äussern wie Spanien ihre Sorge betreffend der aktuellen politischen Situation und empfehlen Transparenz in Bezug auf die Wahlen und die Garantie der Pressefreiheit.
Allmählich wird es zumindest ein wenig konkret. In der anschliessenden, dreissigminütigen Antwort erwidert der Jusitizminister, dass die Befürchtungen komplett unbegründet seien, der Präsident in fairen und transparenten Wahlen gewählt und die Regierung immer nur für Frieden und Ruhe besorgt sei, während die Opposition, die halt eben verloren habe, dies nur einfach nicht akzeptieren könne. 
Uns fällt ein Stein vom Herzen - und ein anderer bleibt
Während ich am Schreiben dieses Newsletter bin, kommt heute Nacht dann doch eine erlösende Nachricht. Boliviens umstrittener Präsident Evo Morales tritt zurück. Uns fällt ein Stein vom Herzen. Die Gespräche sowohl am Familientisch wie in Telefonaten mit Freund*innen in Bolivien hatten sich nur noch um dieses gedreht: Tritt er zurück? Kann die politische Situation in Bolivien zur Ruhe kommen? Wird es möglich sein, das immer tiefer gespaltene Land in Frieden zu wahren? Ist die Eskalation noch zu bremsen?
Die zurückgetretene Regierung spricht von Putsch, von rassistischen, faschistischen und separatistischen Kräften, wie der Justizminister in Genf schon. Der wahre Grund für den Rücktritt liegt aber im Wahlbetrug, der einfach nicht mehr zu verharmlosen war. Justiz, Wahlbehörden und auch die Medien wurden manipuliert oder zumindest gegängelt. Nun wird es wieder anders, hoffen wir. So wie wir damals mit Evo auf ein gerechteres Bolivien hofften, für das er zweifelsohne sehr viel getan hat, bevor seine Regierung immer opportunistischer und korrupter wurde, und er selbst diktatoriale Allüren entwickelte.
Aber Bolivien ist tief gespalten. Viel tiefer noch als vor ein paar Wochen schon. Drei Wochen Generalstreik und Blockaden, drei Wochen Auseinandersetzungen zwischen Regierungsanhängern und -gegnern, das geht nicht ohne Spuren vorüber. Und während ich diese Zeilen schreibe, ist offen, wer das Land bis zu den Neuwahlen regieren wird. Nicht einmal, wo der zurückgetretene Präsident sich befindet, ist klar. Klar ist lediglich, dass der Rücktritt in vielen Medien erleichtert zur Kenntnis genommen wird, dass aber etliche lateinamerikanische Länder den Diskurs vom Militärputsch unterstützen und dass Mexiko Evo Morales Asyl angeboten hat.

Ich bin und bleibe beeindruckt von der Geduld der Bolivianer*innen. Davon, dass mir alle sagten, es müsse halt jetzt einfach eine Lösung kommen, aber wenn sie noch etwas Geduld hätten, komme sie in den nächsten Tagen schon. Und dass die langen Wochen des Stillstands und der Auseinandersetzungen bisher nicht mehr Opfer gefordert haben. Und ich hoffe zutiefst, dass die Geduld und die Toleranz auch diesmal die Eskalation verhindert. Dass Bolivien zu einem friedlichen Alltag findet, der frei sein wird von Hass und Diskriminierungen aller Seiten.
Nach dem Podium wurden wir von der brasilianischen "desk officer" des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte zu einem Gespräch empfangen. Es tat gut zu spüren, wie ernst diese Frau die Anliegen der Menschen in Bolivien nimmt, wie intensiv sie auf die Sorgen von Paulina Beltran hörte, die aus einem armen Quartier von Cochabamba nach Genf gereist war, um am Podium teilzunehmen. Und es tröstet uns, dass sie uns versichert, der bolivianische Justizminister werde zu einem Gespräch ins Hochkommissariat eingeladen. Ob dies alles doch wenigstens auch einen Teil Wirkung tut?
Fest steht, dass wir uns weiterhin - und nun nach Möglichkeit noch verstärkt - für die Stärkung der Zivilgesellschaft und der besonders schwachen Mitglieder in ihr einsetzen werden. In meiner Rede  an der Podiumsdiskussion hatte ich für die Qualität und Diversität der Bildung geworben, und vor allem für reale Möglichkeiten für alle. Ich sprach von meinem Traum einer dualen Bildungslandschaft in Bolivien, für die auch das DEZA wirbt. Dass junge Menschen eine Berufslehre machen können - ja: auch Dienstmädchen, finde ich! Denn diplomiert hätten sie bessere Anstellungschancen. Ich hatte mich dafür stark gemacht, Kinderarbeit und Jugendarbeit nicht einfach - zumindest nicht einseitig - zu verbieten, sondern die Minderjährigen, die zum Arbeiten gezwungen sind, zu unterstützen und zu schützen. Denn wenn sie mit ihrer Arbeit in die Illegalität geraten, wird das Leben für sie nur noch prekärer.
Ich träume von einer bolivianischen Gesellschaft - so schloss ich meine Rede betreffend Kinderarbeit, in spanisch zwar und simultanübersetzt ins Englische - ich träume von einer bolivianischen Gesellschaft, die es ihren Minderjährigen ermöglicht, sich zu bilden, nicht nur in schulischer Hinsicht, sondern auch in praktischer. Ich träume davon, dass diejenigen, die arbeiten müssen, dies innerhalb ihrer beruflichen Entwicklung tun können und nicht in ausgebeuteter Form und ohne Zukunftsperspektive.
 
Ich danke euch allen für die Aufmerksamkeit und für eure treue Unterstützung, in welcher Form auch immer.
 
Wir bleiben unseren Freundinnen, den Dienstmädchen in Bolivien treu. Unter welchen Umständen auch immer!
"Sinp'arispa", heisst die gut funktionierende und schon weit herum bekannte Anlaufstelle für Dienstmädchen in Sucre; das bedeutet in Quechua "flechtend". Dienstmädchen werden aus ihrer Isolation herausgeholt, vernetzt, gestärkt und aufgerichtet. Sie helfen sich gegenseitig weiter und flechten Freundschaften. Die junge Zweigstelle in Santa Cruz, die nun im neuen Zuhause beginnt, heisst "lasst uns flechten" in Guaraní: "Ñañope". Schaffen wir es, den nötigen Erweiterungsbau zu finanzieren? Jetzt ist er erst recht nötig!
Herzlichen Dank für alle bisher schon eingegangenen Spenden!
Newsletter an Freunde und Bekannte mit der entsprechenden Empfehlung weiterzuleiten, kann noch mehr bewirken! 

Spendenkonto CH13 0900 0000 6056 2232 2


Trägerverein Anlaufstelle für Dienstmädchen in Bolivien
4410 Liestal
Maria Magdalena Moser, Projektleitung
mmm@dienstmaedchen-bolivien.org
www.dienstmaedchen-bolivien.org
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