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"Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Dort begegnen wir uns." (Rumi)
Dieses Zitat aus der Sammlung der Sprüche von Rumi begleitet mich seit Wochen mit Fragen fast zu jedem Wort, angefangen mit „Jenseits“. Aus meiner Kindheit ist mir dieses Wort vertraut. Es stand für den himmlischen, lichtvollen Ort, in den wir nach dem Tod aufgenommen werden. Voraussetzung dazu allerdings war, von Schuld, jeder Dunkelheit, ja selbst von allem Bösen frei zu sein. Letzteres war für mich damals kaum fassbar, blieb eine abstrakte Worthülse, bloss Erwachsenen zugänglich. Es war mein kindlicher Traum, am Ende meines Lebens in jenes Lichtland aufgenommen zu werden. Vielleicht war ich damals dem Weisheitswissen, von dem Rumi spricht, näher als in vielen Jahren meines erwachsenen Lebens.
Rumis „Jenseits“ ist jedoch nicht ein Ort, den wir erst nach unserem Tod erreichen. Dieser Ort, der in Wirklichkeit gar kein Ort ist, findet sich im Hier und Jetzt. Er kann nicht festgehalten werden, sondern entfaltet sich in der Stille, gleichsam von Moment zu Moment. Seine Grundhaltung heisst Anfängergeist, NichtWissen, frei von Konzepten und Kategorien.
Frei davon sein, Menschen, Ereignisse und Erkenntnisse in den Kategorien von richtig und falsch - gut und böse, wahrzunehmen und einzuordnen, erfordert die Bereitschaft, ausserhalb der Komfortzone zu leben und Freiheit zu wagen. Diese Freiheit erschliesst sich nicht durch Denken, noch kann sie errungen und auch nicht erkämpft werden. Keine noch so hohen oder sicheren Mauern und Gefängnisse können sie einschliessen. Sie entlässt jedoch Menschen aus inneren Mauern und Gefängnissen, aus allen Konditionierungen und Zwängen.
Jenseits von richtig und falsch findet unser Geist Ruhe - wir Heimat in uns. Dort begegnen wir zunächst uns selbst, werden wir fähig für die vorbehaltlose Begegnung mit Anderen. Jenseits von richtig und falsch, ein himmlischer Ort mitten unter uns.
Anna Myoan Gamma
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