Liebe Freund:innen,
Nach Corona ist vor Corona ist mittendrin in Corona. Ich kann jetzt noch besser mitreden, weil ich Anfang November tatsächlich einen Impfdurchbruch hatte und zwei Wochen Covid-mäßig außer Gefecht war. Eine interessante Erfahrung, mit einigen Erkenntnissen.
Auch wenn man infektiös ist, können drei Schnelltests negativ sein. Es scheint wohl so zu sein, dass gerade bei Geimpften negative Schnelltests nicht unbedingt aussagekräftig sind, insbesondere nicht am Anfang der Erkrankung
Ein milder Verlauf ist in Wirklichkeit nicht so milde, wie gedacht. Es zählt nämlich in der Statistik alles als “milde”, was ohne Lungenentzündung abläuft. Ja, sagen wir es so: eine Lungenentzündung hatte ich nicht. Spaß allerdings auch nicht.
Die bürokratische Abwicklung einer Infektion ist ein Witz in Tüten. Die Kassenärztliche Vereinigung schickte mir per Post einen Brief zwei Wochen nach dem Test, das Gesundheitsamt rief zwar an, fragte aber keinerlei Kontakte ab. Und so weiter. Und das war, bevor die Fälle schon wieder so explodierten wie jetzt.
Praktischer Tipp: Wenn ihr wegen roter Corona-App oder Risikokontakt einen kostenlosen PCR-Test wollt, sagt lieber, dass ihr Symptome habt. Halsschmerzen waren am Anfang mein herausragendes Symptom. Auch kompletter Geruchsverlust ist eine interessante Erfahrung. Bleierne Müdigkeit. Sowohl letztere als auch die Halzschmerzen kommen auch jetzt immer mal wieder, gehen aber meistens nach einer halben Stunde oder so wieder weg. Bei Männern scheint es tendenziell eher auch Fieber zu geben.
Ich bin jetzt also geimpft UND genesen und fühle mich entsprechend gut geboostert für die kommenden Wochen. Aber ernsthaft: Wir müssen über Gesundheit reden. Mich ärgert es ziemlich, wie derzeit das Thema moralisiert wird. Ja, ich kann den Ärger über die Impfverweigerer:innen verstehen, denn wären sie geimpft, würden wir jetzt nicht schon wieder einen Lockdown-Winter vor uns haben, oder zumindest nicht so einen harten.
Aber dieser moralische Fingerzeig auf die “Ungeimpften” lenkt letzten Endes nur ab von dem Versagen der politisch Verantwortlichen. Wir sollten hier die Richtigen anklagen: Wenn die Tatsachen so sind, dass eine gesundheitspolitische Katastrophe nur vermieden werden kann, wenn 90 Prozent und mehr der Bevölkerung geimpft sind - dann muss man das vorschreiben und kann die Entscheidung nicht den Einzelnen überlassen. Es war falsch, sich pauschal gegen eine Impfpflicht auszusprechen zu einem Zeitpunkt wo man noch nicht wissen konnte, wie die Pandemie verläuft.
Es gibt ja auch verschiedene Möglichkeiten, eine Impfpflicht dann umzusetzen. Ich würde es etwa für sinnvoll halten, zunächst nur die über 50-Jährigen oder über 40-Jährigen zu einer Impfung zu verpflichten. Die Jüngeren gehen zwar auch ein Risiko ein, wenn sie nicht geimpft sind, aber sie tragen nicht signifikant zu einer Überlastung der Krankenhäuser bei. Und von Anfang an hätte man das “Default” ändern müssen: Wer nichts aktiv unternimmt, wird irgendwann standardmäßig geimpft, auf der Arbeit, beim nächsten Arztbesuch, whatever. Und wer NICHT geimpft werden will, muss aktiv werden: einen Antrag stellen, ein verpflichtendes Beratungsgespräch absolvieren und so weiter.
Statt aber ihren Job zu machen und verantwortliche Entscheidungen zu treffen, haben die Politiker:innen sozusagen “über Bande” gespielt in der Hoffnung, die Impfquote zu erhöhen. Kostenlose Tests wurden abgeschafft, um es den Impfgegner:innen teuer zu machen, der typische neoliberale Denkfehler, dass man mit Geld alles steuern könne. Ebenso falsch war es, das Geimpftsein quasi als Unsterblichkeit zu verbrämen. Dabei war von vornherein klar, dass es auch Impfdurchbrüche gibt und auch Geimpfte ansteckend sein können. Aber durch die verwirrende Propaganda haben viele Geimpfte dann alle Vorsicht fahren lassen, keine Masken, kein Abstand mehr - und so natürlich dann auch wieder das Infektionsgeschehen angeheizt.
Doch eigentlich liegt das Problem noch tiefer. Was wir jetzt ausbaden müssen mit all den Toten, Kranken, Lockdowns, Erschöpfung und Überlastung von Pflegekräften, von Eltern, die Zumutungen an Kinder und Jugendliche, eingeschränkte Versorgung im Krankenhaus, das ist letztlich die Folge einer Ideologie, die Gesundheit seit Jahrzehnten systematisch als rein individuelle Angelegenheit kommuniziert hat. Wer krank ist, hat wohl nicht gesund genug gelebt. Und das Ergebnis ist dann, dass Leute auf die völlig absurde Idee kommen, sie könnten mit gesundem Lebenswandel ihr Immunsystem gegen einen unbekannten Virus aufrüsten. Diese Tradition der körperlichen Selbstoptimierung ist schon alt, sie hat ihre ideengeschichtlichen Wurzeln im Jugendkult, in der Anthroposophie, im Nazitum, in der Esoterik, im individualisierten Antiautoritarismus - und dieses ungünstige Durcheinander verdichtet sich jetzt unter Corona.
Dagegen hilft auch nicht Diskutieren, ideengeschichtlich so fest verankerte Überzeugungen lassen sich nicht in kurzer Zeit umdrehen. Zumal gerade die neoliberale Ideologie der vergangenen Jahrzehnte noch eins draufgesetzt hat. Dieses Narrativ von der "Selbstverantwortung" hat ja im Gesundheitsbereich eine ganze Menge Parameter falsch gesetzt, nicht nur bei Corona.
Zum Beispiel: Ja, wir alle sollen Vorsorgeuntersuchungen machen. Aber tatsächlich wird hier ein strukturelles Problem individualisiert: Die Idee der Früherkennung von Krankheiten wird doch zur Farce, wenn es monatelange Wartezeiten braucht, um einen Facharzt-Termin zu bekommen. Oder wenn aus Kostengründen MRT-Untersuchungen nicht verschrieben werden, obwohl sie sichere Diagnosen ergeben, aber unterm Strich lohnt es sich für die Krankenkassen halt nicht. Es gibt also strukturelle und ökonomische Gründe, warum viele Krankheiten nicht früh erkannt werden, aber wenn dann jemand krank wird, schieben wir die Schuld und Verantwortung der Person selber zu (und sie selber hat auch Schuldgefühle).
Ich sehe hier übrigens eine Analogie zum Appell "Klimaretten, indem wir Zug fahren statt Auto" - auch hier wird ein strukturelles Problem individualisiert. Es ist überhaupt nicht möglich, dass relevante Mengen von Menschen, die derzeit mit dem Auto fahren, auf die Bahn umsteigen, weil die schlichtweg gar keine Kapazitäten dafür hat. Schon mit dem derzeitigen Personenaufkommen ist sie vielfach überfordert. Inlandflüge in Deutschland müssen weiter stattfinden, weil die Bahn es gar nicht schafft, die Leute stattdessen zu befördern. Es ist also völlig Augenwischerei, den Autofahrenden oder Flugreisenden ein schlechtes Gewissen zu machen, sie sind NICHT daran schuld, dass in Deutschland nicht alle Leute mit der Bahn fahren, sondern daran ist die fehlende Infrastruktur auf der Schiene schuld.
Dieser Drang, alle möglichen gesellschaftlichen Probleme als individuelle Schuldfrage zu diskutieren, scheint mir übrigens etwas typisch Europäisches zu sein, eine Folge jenes Mischmasch aus Christentum (v.a. Protestantismus) und Aufklärung (Kant, Pflichtethik), der immer das Individuum ins Zentrum der Betrachtung stellt und dabei völlig vernachlässigt, dass Individuen immer nur relativ überschaubare Optionen haben. Ja, Einzelne können natürlich was anders machen. Einzelne können sofort aufhören zu fliegen oder Auto zu fahren, sie können akribisch zu allen Vorsorgeuntersuchungen gehen, usw. und möglicherweise bringt das auch ein bisschen was. Für die strukturellen Probleme, die dahinter stehen, ist das aber irrelevant.
Lest in Bezug auf Gesundheit bitte auch diesen Artikel von Kirsten Achtelik über ihre Brustkrebs-Erkrankung, der mich zu diesen Überlegungen inspiriert hat.
Über Corona habe ich in den letzten Wochen hin und wieder mal auf Facebook diskutiert, wer sich dafür interessiert, findet hier die Links zu den entsprechenden Threads.
Antje
(PS: Ganz unten gibt’s wieder Bücher zum Verschenken)