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Liebe Freundinnen und Freunde von NeSTU
Seit sechs Tagen herrscht in der Ukraine Krieg, und es fühlt sich schon wie ein halbes Leben an. Als ich vor zwei Wochen unsere Rundmail mit Fotos der zerbombten Hauptstadt Tschetscheniens Grosny illustrierte, hatte ich noch Skrupel, ob das nicht zu dick aufgetragen sei. Spätestens seit gestern müssen wir befürchten, dass es in der Ukraine noch schlimmer kommt.

In diesem Rundbrief:
  • Eine Einschätzung der allgemeinen Lage und der Perspektiven
  • Die Lage in Transkarpatien
  • Was wir tun
  • Was Ihr tun könnt
Und gleich vorweg: Wir hier in der Ukraine haben in den vergangenen Tagen eine riesige Solidarität aus dem Ausland erfahren, und die zahlreichen Nachrichten und überaus grosszügigen Überweisungen auf das NeSTU-Konto sind ein Teil davon. Eure Unterstützung ist sehr wichtig, sowohl moralisch als auch materiell. Zwei Überweisungen von je 10'000.- wurden bereits überwiesen und schon in den allernächsten Tagen werden erste Hilfslieferungen starten. HERZLICHEN DANK!
Weitere Infos darüber, wie die Hilfe eingesetzt wird und welche Dringlichkeiten es gibt -  am Ende dieses Rundbriefs.
Redaktion: Jürgen Kräftner, Transkarpatien

PS: Wir, das CAMZ in Uzhhorod und die Gruppe von und um Longo mai in Nyzhne Selyshche, bekommen dieser Tage unzählige Kontaktanfragen und Unterstützungsangebote aller Art. Wir möchten uns nochmals bei Allen bedanken, die uns in diesen Stunden Beistand leisten, und gleichzeitig um Entschuldigung und Verständnis bitten, dass wir längst nicht alle Mails etc. beantworten können.

PS 2: Heute Morgen, als ich schon begonnen hatte, diesen Brief zu verfassen, haben unsere Gäste aus Kyiv eine erschütternde Nachricht erhalten. Es ist ein Ehepaar mit einem fünfjährigen Sohn. Sie sind als Kunstkuratoren international sehr bekannt, und führen ausserdem in Kyiv einen alternativen Kindergarten. Kurz nach dem Ende der Ausgangssperre nach 7 Uhr wurde ihr Haus und zwei benachbarte Wohnblöcke von russischen Raketen getroffen und völlig zerstört. Die Wohnsiedlung befindet sich in der unmittelbaren Nähe eines Militärspitals. Die Anzahl der Opfer ist derzeit nicht bekannt.

Ein Interview mit dem Verfasser dieser Zeilen am österreichischen Rundfunk ist hier zu hören: Ö1 - ORF 
Eine Woche Krieg
Es gibt Momente im Leben, in denen viele Wörter überflüssig werden. Ihr lest und seht sicher viel in den Schweizer Medien und wollt vermutlich wissen, wie es Euren Bekannten hier geht und wie wir die Lage einschätzen.
Transkarpatien ist die einzige Region der Ukraine, die bisher völlig von der Agression verschont geblieben ist, damit meine ich direkte Gewalt. Das ist eine beneidenswerte Lage, betrachtet aus den Städten in Norden, Osten und Süden, die täglich von Raketen beschossen und aus der Luft und von Artillerie bombardiert werden. Millionen Menschen verbringen täglich lange Stunden in den Luftschutzkellern oder U-Bahn-Stationen.
Bis gestern, 1. März haben laut der UNO bereits 800'000 Menschen die Ukraine ins westliche Ausland verlassen. Über die Anzahl der Binnenflüchtlinge gibt es keine verlässlichen Angaben. Alleine in Transkarpatien gehe ich von 100 - 200'000 Menschen aus. Bisher ist der überwiegende Teil privat untergebracht, aber für längere Aufenthalte gibt es privat nun fast keine Kapazitäten mehr.
Die Lage in den mehreren grossen Städten im Nordosten und im Süden macht uns grosse Sorgen, ganz besonders im Gebiet Luhansk. Eine Evakuation ist aus diesen Gebieten nicht mehr möglich und eine humanitäre Katastrophe wird schrittweise Realität. Die Versorgungslage ist sehr kritisch, es mangelt praktisch an Allem, Wasser, Strom, Wärme, Lebensmittel. Zu einigen Orten hat auch das Rote Kreuz keinen Zutritt. In den Medien wird darüber derzeit kaum berichtet, da sich dort keine Korrespondenten aufhalten. Unsere Informationen kommen direkt von dort lebenden Bekannten und von kleinen Hilfsorganisationen. Mehrere der grossen Städte sind fast oder völlig umzingelt, auch hier ist die Versorgungslage katastrophal.
Über den eigentlichen Krieg möchte ich hier nicht mehr schreiben, die internationalen Medien berichten sehr ausführlich. Aber die Stimmung im Land ist ungebrochen. Heute Morgen wurde eine Umfrage veröffentlicht gemäss der beinahe 90 Prozent der Bevölkerung daran glauben, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Natürlich kann man an Umfragen in Kriegszeiten zweifeln, aber unser subjektiver Eindruck ist jedenfalls nicht viel anders.  Dazu tragen Handyvideos von Menschenansammlungen im traditionell "russlandfreundlichen" Osten bei, die unbewaffnet feindliche Militärkolonnen aufhalten.
Während den ersten zwei, drei Tagen waren wir Alle mehr oder weniger fassungslos, das "wir" ist in diesem Fall sehr breit gemeint. Gestern war ich das erste Mal seit einer Woche unterwegs quer durch Transkarpatien und habe die Blicke vieler Menschen gesehen. Und natürlich sind sie anders, ernst, gefasst und viel zuvorkommender als sonst. Vielleicht klingt es erstaunlich, aber ich bin glücklich, heute mit diesen Menschen in der Ukraine zu sein.
Es passt wohl auch noch gut hierzu, dass in den selben sechs Tagen, in denen 800'000 Frauen, Kinder und alte Menschen das Land verlassen haben, 80'000 ukrainische Männer aus dem Ausland zurückgekehrt sind, um ihre Heimat zu verteidigen.

Versorgungskrise
Dieses Thema macht uns derzeit nicht weniger Sorgen als die wachsende Brutalität der russischen Streitkräfte. In den Städten, die seit bald einer Woche unter russischem Beschuss stehen, gibt es schon seit Tagen kaum mehr Lebensmittel. In Kyiv werden zum Beispiel Milchprodukte rar, aus Charkiw hört man, dass es kein Brot mehr gibt. Treibstoffe werden bei uns in 20Liter-Rationen abgegeben. 
Anfangs vermuteten wir, dass Hamsterkäufe den Mangel an einfachen Lebensmitteln ausgelöst hätten. Aber gestern hören wir von einem Beamten in Chust, dass die Mehlreserven in den transkarpatischen Bäckereien nur mehr für vier Tage reichen. Viele unserer Lebensmittel kommen aus den zentralen Teilen der Ukraine, und offenbar ist der Nachschub nicht mehr gewährleistet. Der Preis für Kartoffel hat sich verdreifacht, das Maismehl für den beliebten Tokan ist nur mehr schwer zu finden.
In Transkarpatien
Wie erwähnt ist bei uns alles ruhig. Sogar sehr ruhig. Innerhalb der Region gibt es keine Strassensperren. In manchen Orten sieht man die neu gebildeten Dorfmilizen, die kontrollieren sollen, ob keine Spitzel, Provokateure oder Saboteure unterwegs sind. Ihre Vollmachten sind beschränkt. Die zahlreichen Fahrzeuge mit Kennzeichen aus anderen Regionen der Ukraine fallen auf. In den grösseren Orten gibt es Sammelstellen für humanitäre Hilfe für die Binnenflüchtlinge. In einem grossen Park in Uzhhorod werden Molotow-Cocktails abgefüllt und von dort an die Front gebracht. Auf Plakaten wird die Bevölkerung dazu aufgerufen, Wohnraum für Flüchtlinge bereitzustellen und dies bei einer der zahlreichen Koordinationsstellen zu melden. Überhaupt gibt es unzählige Freiwilligeninitiativen. In Uzhhorod zum Beispiel zahlreiche Restaurants, die zu Kantinen für notdürftige Menschen umgewandelt wurden. Das ist gut so, denn laut Insiderberichten ist die regionale Behörde von den aktuellen Aufgaben völlig überfordert.
Das betrifft auch die konkrete Hilfe für Flüchtlinge, die ins Ausland wollen. An den meisten Grenzen haben sich lange Staus gebildet. Dort helfen ihnen Freiwillige mit Wasser,  Lebensmitteln und Windeln, der Katastrophenschutz hat Toiletten eingerichtet, Informationszettel werden verteilt.
Was wir in Transkarpatien tun
Wie schon früher berichtet, waren wir schon seit einiger Zeit darauf eingestellt, Flüchtlinge bei uns privat aufzunehmen. Aber natürlich war niemand auf eine Katastrophe dieser Ausmasse vorbereitet, weder moralisch noch praktisch. Die ersten Tage haben wir wie im Trance organisiert, was wir konnten und schliefen tagelang fast nicht. Befreundete Familien kamen nach mehrtägigen Reisen mit ihren Grossmüttern, Kindern, Hunden und Katzen traumatisiert und übermüdet bei uns an. Derzeit leben im Longo mai Haus etwa 25 Personen, darunter auch einige Freiwillige aus Rumänien, Deutschland und Frankreich. Kinder aus den Frontzonen wurden direkt aus dem Bunker in Autos gepackt und reisten dann während fast drei Tagen bis zu uns. Ein Teil ist bei uns im Jugendgästehaus untergebracht, eine Gruppe aus einem Waisenhaus im fast vollkommenen zerstörten Schastya (übersetzt "Glück") in Luhansk lebt jetzt im Kindergarten von Nyzhne Selyshche. Wir möchten sie überrreden, ins Ausland, eventuell in die Schweiz, weiterzureisen. Das der Longo mai-Käserei von Nyzhne Selyshche angeschlossene Restaurant verköstigt neuerdings täglich bis zu hundert Flüchtlinge.
Das CAMZ in Uzhhorod koordiniert die anlaufenden Hilfslieferungen. Es gibt umfassende Listen mit dringend benötigten Gütern, die in den angrenzenden Ländern von Freiwilligen gekauft werden. Demnächst sollen die ersten Hilfstransporte an der Grenze eintreffen. In Ungarn koordiniert übrigens der Schwager von Emil Sokach (Dirigent von Cantus) die Hilfe. 
Die Mittel, die Ihr bei NeSTU einzahlt, werden also direkt an die entsprechenden Adressen in Ungarn und der Slowakei überwiesen, um unnötiges Hin und Her zu vermeiden. Parallel organisieren wir auch kleinere und spontanere Hilfslieferungen via Longo mai mit Minibussen aus Rumänien.
Den Bus von Hudaki werden wir ab heute Nacht für die Evakuierung von Menschen aus Kyiv und Charkiv einsetzen. 
Von Beginn an haben wir uns besonders um Flüchtlinge aus Drittländern gesorgt. In der Ukraine lebten seit Jahren viele Menschen, die in den ehemaligen Sowjetrepubliken verfolgt waren, zB. aus Usbekistan, Kirgistan und Tschetschenien. Es bestand die Gefahr, dass diese im Falle einer russischen Invasion besonders gefährdeten Menschen keine Fluchtmöglichkeit erhielten und tatsächlich sind nicht alle Nachbarländer aufnahmebereit. Auch von Seiten der ukrainischen Behörden stossen sie nicht überall auf Verständnis. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die slowakischen Behörden offenbar durchaus kulant mit ihnen umgehen. Es muss aber weitere Abklärungen geben, wo diese Leute nach ihrer Ausreise Asyl oder zumindest vorübergehende Aufnahme erhalten können. Ein entsprechender Aufruf ukrainischer Menschenrechtsorganisationen ist hier nachzulesen (auf Englisch). Das CAMZ koordiniert die Hilfe und verteilt wichtige Information für den Grenzübertritt an die Schutzbedürftigen.
Was Ihr tun könnt
Das einfachste ist natürlich, unsere Direkthilfe unmittelbar finanziell zu unterstützen. Die Freiwilligen in der Slowakei und in Ungarn kaufen und sammeln dringend benötigte Hilfsgüter: Matratzen und Schlafsäcke, Medikamente und sogar Instrumente für operative Eingriffe, Verbandsmaterial, blutstillende Mittel, Hygieneartikel, Lebensmittel, Babynahrung. Diese Soforthilfe kann in den kommenden Tagen nach und nach aufgestockt werden. Die Koordination ist in Händen von vertrauenswürdigen Personen auf beiden Seiten der Grenze.

Falls Ihr andere Möglichkeiten oder Beziehungen habt: 
Wie erwähnt ist die Versorgungslage in vielen Regionen katastrophal und viele Menschen haben keine Fluchtmöglichkeiten mehr, auch im Raum Kyiv. Hier sind die grossen Hilfswerke gefordert. Wir wissen derzeit nicht, wie stark und schnell sich die Humanitäre Hilfe des Bundes engagiert, aber eine sofortige Reaktion wäre extrem wichtig.
Aus Deutschland haben wir, zum Beispiel, ein Angebot einer völlig autonomen Feldküche für 500 Personen bekommen und klären derzeit ab, wo sie einzusetzen wäre.

Unterkunft für Kriegsflüchtlinge:
Wir müssen diese Angebote systematisieren. Dazu brauchen wir jeweils ein paar Informationen:
Wie viele Personen könnten untergebracht werden?
Spricht jemand im nahen Umfeld eine slawische Sprache?
Sind Kinder willkommen?
Haustiere?

Bitte um diese Informationen am besten per Mail an die Geschäftsstelle.
 
Kontakt zu NeSTU:
Salome Stalder - Martin, Dipl Forst-Ing. ETH, Mürgstrasse 6, 6370 Stans
E-Mail: info(at)nestu.org. Natel: 078 770 23 43
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