WEG - WAHRHEIT - LEBEN
Wir gehen auf Ostern zu. In den christlichen Kirchen beginnen die grossen Feiertage mit der Abschiedsfeier Jesu von seinen Weggefährt:innen am Hohen Donnerstag. Am Karfreitag folgt sein Verhör, der Verrat und sein gewaltsamer Tod, am Karsamstag die Leere der Grabesruhe und am Ostersonntag seine Auferstehung, die unüberbietbare Verheissung von Neuem Leben.
In den Gesprächen vor seiner drohenden Gefangennahme wird Jesus mehrfach gefragt: Wohin gehst du und was ist der Weg? Seine Weggefährten wollen wissen und dies ganz genau, als gäbe es eine entsprechende Landkarte, die unfehlbar Orientierung gibt und die man besitzen könnte. Jesus – so wird im Johannesevangelium berichtet – antwortet nicht auf der äusseren, sachlogischen Ebene. Er lädt auf eine andere Ebene ein – die Ebene, in der es keine detaillierte Wegbeschreibung gibt, auch kein Versprechen, je irgendeinmal etwas entsprechendes zu besitzen. Seine Antwort: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben». Sie fällt sozusagen aus Zeit und Raum, in die raum- und zeitlose Ebene des Seins. Gerade deshalb kann seine Botschaft Menschen heute noch berühren, inspirieren, auch Widerstand auslösen oder fragend zurücklassen. Zu letzteren gehöre ich.
Meine Fragen umkreisen zunächst die Trias Weg, Wahrheit, Leben. Warum spricht Jesus nicht einfach eine Kurzfassung wie an anderen Stellen im Evangelium auch? Sie würde ganz einfach lauten: «Ich bin Leben». Und ist im Bedeutungsraum des «Lebens» nicht auch schon Wahrheit enthalten? Denn jedes Leben, ja jeder Moment ist Ausdruck einer Wahrheit, jedes Wort und jede Schrift übersteigend, gleichsam unsagbar und doch – lebendig. Und weiter: Gibt es überhaupt Leben ohne Weg? Leben kann doch nicht festgehalten werden. Es ist ohne Anfang und Ende. Mehr noch, es ist ständig in Veränderung. Kein Moment gleicht dem anderen. Dazu gibt es auch andere Beschreibungen wie Vergänglichkeit und Wandlungsprozess. Jedoch ist die Metapher «Weg» vertrauter, vielleicht sogar tröstender, weil wir bereits in unserem Leben viele Wege gegangen sind. Manchmal gestolpert und hingefallen, doch dann wieder aufgestanden. Manchmal waren wir leichtfüssig unterwegs, dann wieder mit schweren, bedächtigen Schritten.
An anderer Stelle des Evangeliums spricht Jesus: »Ich bin das Licht der Welt» um später zuzufügen «Ihr seid das Licht der Welt». So habe ich angefangen, die Affirmationen «Ich bin Weg, ich bin Wahrheit und ich bin Leben» in mich hineinzusprechen. Die Trias weckt und fördert die Bereitschaft, den eigenen LebensWeg, ja das Leben jeden Tag zu bejahen, egal ob es stürmt oder die Sonne scheint. Und sie stärkt uns darin, an keiner Wahrheit festzuhalten und sich dafür zu öffnen, dass sich das LEBEN frei und bedingungslos in jedem Moment hingibt und voller Grosszügigkeit verschenkt.
Ich wünsche, dass sich uns in den kommenden Tagen befreiende, sinnstiftende Erfahrungen von «Weg, Wahrheit und Leben» erschliessen mögen.
Dr. Anna Gamma
Spirituelle Leiterin Zen Zentrum Offener Kreis
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