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Whatever tomorrow brings
I'll be there with open arms and open eyes
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Good evening, Europe!

Ich schreibe diesen Newsletter im Garten hinter dem Haus, in dem wir eine Mietswohnung bewohnen. Die Sonne scheint, es sind 32 Grad. Die Luft hier draußen brennt nicht in den Augen und der Lunge. Wenn es kälter wird, werde ich hineingehen und mir etwas zu Essen machen. Heute Nacht werde ich in einem Bett schlafen, niemand wird mit Tränengas auf mich schießen. Niemand wird mich aufgrund meiner Hautfarbe, meines Geschlechts oder meiner sexuellen Orientierung online beleidigen. Scheiße, geht's mir gut!
 

Wenn man die letzten Wochen zu nah am Nachrichtenstrom stand, konnte man den sicheren Eindruck gewinnen, die Apokalypse stünde nicht mehr nur bevor: Der Mittwoch begann mit den Bildern des brennenden „Flüchtlingslagers“ (ein interessanter Begriff für ein völlig überfülltes Camp mitten im Nirgendwo, das seit Monaten unter Corona-Lockdown stand) Moria, ins Bett ging ich mit den Bildern eines orangefarbenen Himmels über meinem home away from home, San Francisco. Bei allem Optimismus, allem Blick auf das „Große Ganze“, hatte ich echt keine Idee, wie man in diesen Bildern noch einen Funken Hoffnung finden sollte.

Dann kam der nächste Tag, die nächsten Nachrichten, die nächsten Ungeheuerlichkeiten des deutschen Innenministers, die nächsten Bilder, die nächsten Ablenkungen — es geht halt eben doch immer weiter.
 

Es folgten ein paar reichlich unrunde Jubiläen: Die Erinnerungen an den 11. September 2001 fanden in meiner deutschsprachigen Social-Media-Blase null statt, in der amerikanischen dafür umso mehr. Auch in Zeiten, wo es teilweise nur drei Tage dauert, bis die Opferzahlen der Covid-19-Pandemie mit denen der Anschläge „gleichgezogen“ haben, bleiben diese Anschläge doch immer noch die kollektive Wunde eines Landes, dessen Kaputtheit den Meisten hier erst in den letzten Jahren so richtig klargeworden ist. Und das, wenn schon nicht mehr politisch, dann doch zumindest pokulturell, den Meisten immer noch näher ist als Nachbarländer wie die Niederlande, Österreich oder Polen.

Am Samstag jährte sich zum vierten Mal die Erstausgabe dieses Newsletters, der ja ein fröhlicher, lebensbejahender Gegenentwurf zur zunehmend politisierten und vergifteten Atmosphäre in den Sozialen Medien sein sollte. Irgendwie hat es ja bisher meistens dann doch noch irgendwie geklappt!

Und gestern schließlich war jener Freitag, der 13., genau ein halbes Jahr her, als sich Weltgeschichte mal wieder in Echtzeit entblätterte und in den zweieinhalb Stunden zwischen „Abholen vom Kindergarten“ und „Nach Hause kommen vom Kinderturnen“ im Minutentakt Schulen und Kindergärten geschlossen, Fußballspiele erst zu Geisterspielen erklärt und dann komplett abgesagt wurden. 

Seit über einem halben Jahr bin ich jetzt nicht mehr auf Konzerten, im Kino, Fitnessstudio oder in Kneipen gewesen. Ich habe niemanden außerhalb meiner Familie umarmt, war in keiner fremden Wohnung und hatte keinen Besuch in meiner. Ich war seitdem zweieinhalb Stunden im Ausland, habe zwei oder drei Bücher gelesen und immer noch nicht angefangen, meinen Roman zu schreiben, meine Fernsehserie zu pitchen (obwohl ich inzwischen sogar eine - wie ich finde - ganz gute Idee hatte) oder mein Album aufzunehmen. Und es ist okay, so wie uns die ganzen Sharepics in den Sozialen Medien seit Monaten erinnern, dass es okay ist. 

Ich bin froh, dass ich nur selten zum Arbeiten irgendwohin fahren muss — und wenn, dann zu Zeiten, wo die Züge eh meistens leer sind. Anders als Freund*innen, die als Lehrer*innen arbeiten und jeden Tag mit hunderten verschiedener Menschen in geschlossen Räumen verbringen müssen; oder die, die als Sozialarbeiter*innen in andererleuts Wohnungen gehen müssen, sitze ich nur selten mit ca. 15 Personen auf Abstand in einem großen Raum mit Belüftungsanlage. Dann ist 2020 halt eine Art sabbatical, sowas hätte ich mir von alleine eh nie gegönnt. 

Immerhin habe ich mit Yoga angefangen — natürlich online: Lisa Jakub war früher Kinderstar in Filmen wie „Mrs. Doubtfire“ und „Independence Day“ (in der 3. Folge „Bist Du noch wach?“ habe ich sie neulich als meinen ersten celebrity crush bezeichnet), hat sich dann von der Schauspielerei zurückgezogen und ist heute Autorin und Yoga-Lehrerin. Auf ihrem YouTube-Kanal gibt sie Einführungen und Anleitungen für Yoga und Meditationen und es ist für mich, als würde ich einer langjährigen Freundin zuhören, was natürlich umso mehr dazu beiträgt, dass ich mich dabei entspanne.

Pläne habe ich im Moment eh keine — zum vermutlich ersten Mal in meinem Leben warte ich nicht auf das nächste Event, den nächsten großen Termin, sondern bin vollkommen in der Gegenwart angekommen. Wochentage haben kaum noch eine Bedeutung — wie soll ich jetzt sagen, ob und wie ich meinen Geburtstag Ende des Monats feiern kann, von Weihnachten ganz zu schweigen?! Am Samstag haben wir zum ersten Mal in diesem Jahr gegrillt, es war eine befreundete Familie da, wir saßen im Garten und hörten die DFB-Pokal-Konferenz im Radio. Alles war schön und nichts tat weh.
 
Was macht der Garten? Die ersten Pflanzen deuten an, dass sie „einjährig“ sind und auch nicht vorhaben, gegen dieses Schicksal zu rebellieren. Dafür steht die erste Sonnenblume, die wir uns selbst gezogen haben, jetzt in voller Pracht!

Was hast Du gehört? Joy Denalane ist so eine Künstlerin, die ich natürlich immer irgendwie „auf dem Schirm“ hatte, mit der ich mich aber irgendwie nie näher beschäftigt habe. Jetzt hat sie, als erste*r deutsche*r Künstler*in überhaupt, ein Album bei Motown Records veröffentlicht, was mich natürlich neugierig gemacht hat. Und - siehe da - „Let Yourself Be Loved“ (Spotify, Apple Music) ist ein sattes Soul-Album, das ganz wunderbar zum Label passt (besser als manches, was dort in den 1980er und 1990er Jahren erschienen ist *hust*)!

Der Rapper Logic hat im Juli sein Abschiedsalbum „No Pressure“ (Spotify, Apple Music) veröffentlicht; für mich eines der besten Hip-Hop-Alben der letzten Jahre. Besonders der Schluss-Track „Obediently Yours“, in dem er einen 74 (!!!) Jahre alten Kommentar von Orson Welles zum Thema Rassismus samplet („In a people's world, the incurable racist has no rights / He must be deprived of influence in a people's government / He must be segregated, as he himself would segregate the colored and Semitic peoples“, aber es geht noch weiter), hat mir schlicht den Stecker gezogen. 

Letzten Freitag erschien dann endlich „Encounter“ (Spotify, Apple Music), das neue Album von Igor Levit (den ich in der gleichen Podcast-Folge als einen meiner aktuellen celebrity crushes bezeichnet habe). Er spielt darauf Werke von Bach, Brahms und Reger, ich habe es erst einmal gehört, als ich eine sehr lange Schachpartie gegen das Kind gespielt habe, aber dazu war es der perfekte Soundtrack. 

Was hast Du gelesen? Als das Thema Rassismus Anfang Juni, nach dem Tod von George Floyd, mal wieder in die Wohnzimmer von uns privilegierten Weißen schwappte und ich mich zum ersten Mal intensiv mit den Hintergründen und meiner eigenen Rolle in diesem System beschäftigt habe (s.a. Newsletter vom 4. Juni), habe ich beim Blick auf mein Bücherregal erschrocken festgestellt, dass wirklich nahezu alle Bücher, die dort standen, von weißen Männern geschrieben worden waren — und als nächstes sofort mit einer Freundin einen diversity book club gegründet. Das erste Buch, das wir dort gelesen und (natürlich per Zoom) besprochen haben, war jetzt „The Hate U Give“ von Angie Thomas.

Es ist ein Jugendbuch (young adult fiction klingt irgendwie cooler), in dem die 16-jährige Starr Carter, die als einziges Schwarzes Mädchen eine Privatschule besucht, mit ansehen muss, wie ein Polizist ihren besten Freund seit Kindertagen erschießt. Es kommt zu Unruhen und Verwerfungen innerhalb der Community und das alles kommt einem vor, als hätte man davon schon Dutzende Male gehört, weil es in den USA halt so verdammt alltäglich ist. Wir haben darüber gesprochen, was wohl die Zielgruppe für diesen Roman sein mag, und kamen zu dem Schluss, dass man als weiße*r Leser*in dort eigentlich sehr gut viele verschiedene Aspekte des Themas Rassismus erklärt bekommt, die man auch in den einschlägigen Sachbüchern nachlesen könnte, wenn man denn wollte. Ja, es ist ein Jugendbuch und mitunter etwas plakativ und cheesy, aber auch sehr beeindruckend, weil es einen Alltag beschreibt, den wir uns allenfalls vorstellen können.

Irgendwie passend dazu ist in der britischen „GQ“ ein Porträt von John Boyega erschienen, dem Finn aus den letzten drei „Star Wars“-Filmen. Es geht darin unter anderem um seine Rede bei Black-Lives-Matter-Protesten in London und um die Erfahrungen, die er als Schwarzer Hauptdarsteller im „Star Wars“-Universum machen musste (beleidigt und bedroht von „Fans“ auf Social Media, von den Produzent*innen in Teil zwei und drei merkwürdig an den Rand gedrängt). Auch diese Lektüre: eher bedrückend.

Dan Kois fragt bei „Slate“, warum der Pandemie-bedingte Online-Schulunterricht seiner 13-jährigen Tochter eigentlich um 7.50 Uhr beginnen muss. Es gibt wohl ein paar Argumente dafür (u.a. Arbeitsverträge und Betreuungssituation von Lehrer*innen), aber die Frage, warum man Kinder und Teenager zu Uhrzeiten mit „Stoff“ (sorry, ich finde das Wort so lustig unpassend!) zuballert, an denen sie wissenschaftlich erwiesen nicht auf der Höhe sind, kann man natürlich immer mal wieder stellen!

Was hast Du gesehen? Auf arte lief eine Dokumentation über „Menschenzoos“ (was ziemlich genau das ist, was man sich bei diesem Wort, das es eigentlich nicht geben dürfte, vorstellt), die man sich noch bis Oktober in der Mediathek ansehen kann. Danach möchte man bei einer Hamburg-Reise vielleicht auf einen Besuch des dortigen Tierparks verzichten

Was hast Du gelernt? Das Wort „Aerosol“ spricht man [aeʁoˈzoːl], die russische Fluglinie [ɐɛrɐˈfɫot]. Beides nix mit „Ä“!
Bochum: Klingt gut, sieht schön aus!
Habt eine schöne Woche & stay positive, Euer Lukas

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