"Man tötet die Wahrheit nicht, indem man Journalisten tötet"
Der Newsletter im April
15. April 2021
Editorial
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
diese mexikanischen Demonstrantinnen und Demonstranten bringen es auf den Punkt: „Man tötet die Wahrheit nicht, indem man Journalisten tötet“. Der 3. Mai ist der Internationale Tag der Pressefreiheit, und viele Weltreporter*innen berichten wie ich aus Regionen, in denen es um diese Freiheit extrem schlecht bestellt ist. In Mexiko wird vor allem für einheimische Kolleg*innen das Arbeiten immer schwieriger. Wer die Machenschaften der Mafia oder Korruption in der Politik aufdeckt, muss mit allem rechnen. Das Land zählt neben Syrien und Afghanistan zu den gefährlichsten für Medienschaffende. Auch in Somalia arbeiten Journalist*innen unter Lebensgefahr, und in China hat die Regierung wieder dafür gesorgt, dass ein Korrespondent das Land verlassen musste. In Tschechien und Polen nimmt der Filz von Politik, Kapital und Medien zu, in den Niederlanden müssen sich Reporter*innen vor ihren Mitbürger*innen schützen. Die guten Nachrichten: In Skandinavien wird die Pressefreiheit „nur“ aus dem Ausland bedroht, und in Afrika haben Medienschaffende ein kontinentales Projekt gegen Fake News und Zensur entwickelt.
Doch es gibt noch mehr von uns zu berichten. Bettina Rühl hat sich mit der Verantwortung Frankreichs im Genozid in Ruanda beschäftigt, und Karen Naundorf ist für ihre Reportage über argentinische Frauen gegen Gewalt für einen Medienpreis nominiert. Kerstin Zilm hat die Autorin Cornelia Funke besucht, die von Kalifornien nach Italien umzieht. Und weshalb sich dort Wölfe und Schafe gute Nacht sagen, weiß Christiane Büld Campetti.
Der Wolf ist zurück. Nicht für alle ist dies eine gute Nachricht. Deutsche Schäfer und Viehbesitzer sind oft strikt dagegen, die Wildnis mit ihnen neu zu beleben. In der mittelitalienischen Region Abruzzen hingegen, wo man die größte Wolfsdichte weltweit verzeichnet, ist ein friedliches Nebeneinander möglich: Im Majella-Nationalpark lassen Züchter ihre Schafe oder Rinder ganzjährig draußen weiden, obwohl zehn Wolfsrudel durch die Wälder streifen. 20 Jahre lang wurde dort jeder Angriff der Wölfe auf Nutztiere genau analysiert. Dabei hat man gelernt: Maximaler Schutz ist gewährleistet, wenn eine Herde Tag und Nacht von mehreren Schutzhunden begleitet wird, die selbst ein Rudel bilden. Das akzeptieren die Wölfe und lassen die Tiere in der Regel in Ruhe. Weltreporterin Christiane Büld Campetti war vor Ort.
Die Reportage "Frauen gegen Männer-Gewalt" von Weltreporterin Karen Naundorf ist für den Juliane-Bartel-Preis nominiert. Das Land Niedersachsen würdigt mit diesem Medienpreis Beiträge, die die Gleichstellung von Frauen und Männern thematisieren und dabei Rollenkonflikte sichtbar machen. Die Auszeichnung erinnert an die Hörfunk- und Fernsehmoderatorin Juliane Bartel (1945-1998).
Es hat 27 Jahre gedauert, bis Frankreich seine Mitverantwortung für den Völkermord in Ruanda anerkannte. 1994 wurden binnen weniger Wochen mindestens 800.000 Menschen, überwiegend Tutsi, getötet. Frankreichs Rolle war dabei von Anfang an umstritten. Vor allem Präsident Francois Mitterrand unterhielt engste Beziehungen zur ruandischen Regierung, in der extremistische Hutu zunehmend die Macht übernahmen und schließlich den Völkermord verübten. Nun veröffentlichte Frankreich den Bericht einer Historikerkommission zu seiner Rolle während des Völkermordes. Die Experten bescheinigen dem Land eine schwere politische Verantwortung für den Genozid, aber keine Mittäterschaft. Viele Ruanderinnen und Ruander sehen in dem Bericht einen Ansatz zur Versöhnung. Andere hätten sich deutlichere Worte erhofft.
Cornelia Funke: Von der US-Avocadofarm zum italienischen Olivenhain
Cornelia Funke tauscht ihre Avocadofarm in Malibu gegen eine Olivenfarm in der Toskana ein. „Die Entscheidung kam vielleicht plötzlich, aber der Prozess dahin war lang,” erzählte die 62 Jahre alte Bestsellerautorin der Weltreporterin Kerstin Zilm. Hauptgründe für den Umzug sind anhaltende Dürre und Feuergefahr in Südkalifornien. Dort hat es diesen Winter fast gar nicht geregnet, und in Malibu gab es vier Mal Feueralarm. Dazu kommen Sehnsucht nach europäischer Kultur und ein Kaufangebot, das sie kaum ausschlagen konnte: Investoren wollen ihr Grundstück zu einer Öko-Farm für Stadtkinder umbauen. In der Toskana wird Funke ihre Künstlerresidenz für Illustratorinnen, Autorinnen, Bildhauerinnen und Musikerinnen fortführen und den vierten Teil der Tintenherz-Reihe fertig schreiben. Ihre zwei Hunde kommen mit, für die drei Esel sucht sie noch eine Unterkunft. Link zum DLF-Beitrag
Der somalische Journalist Abukar Sheikh Mohamud ist 31 Jahre alt. Sieben Kolleg*innen hat er schon beerdigen müssen, seit er 2010 bei dem Radio- und Fernsehsender Shabelle Media Network zu arbeiten begann. Noch einmal so viele Journalist*innen des Senders wurden vor seiner Zeit dort ermordet. Als Täter gelten Mitglieder der islamistischen Shabaab-Miliz, doch die Hintergründe der Morde wurden nicht ermittelt. Jahrelang war Somalia ein „failed state“ und eines der gefährlichsten Länder für Journalist*innen. Die inzwischen eingesetzte Regierung geht ihrerseits gegen kritische Medien vor. Mohamud weiß, dass er jederzeit getötet werden kann. Trotzdem gibt er nicht auf: Er glaubt weiter an die verändernde Kraft des Journalismus.
Die Corona-Pandemie wird auch auf dem afrikanischen Kontinent von einer Flut von Fake News begleitet. Innovative Medienmacher*innen antworten darauf mit Qualitätsjournalismus: Vor einem Jahr haben sie die digitale Wochenzeitung „The Continent“ gegründet. Das Besondere neben einer authentisch afrikanischen Perspektive: Die kostenlose Zeitung wird direkt aufs Handy geliefert. Wer sie abonniert hat, erhält sie als pdf-Datei per WhatsApp oder über Signal. Willkommener Nebeneffekt: Für autokratische Regierungen ist es fast unmöglich, die Zeitung zu zensieren. Weltreporterin Leonie March hat mit dem Gründer der Zeitung gesprochen, in ihrem Beitrag für den Deutschlandfunk kommt außerdem eine Leserin zu Wort.
Mindestens 136 Journalistinnen und Journalisten wurden in Mexiko seit 2000 ermordet, alle 13 Stunden wird ein Medienschaffender angegriffen. Hinter den Attacken stecken kriminelle Kartelle, lokale Unternehmer oder korrupte Politiker, denen die Reporter*innen in die Quere gekommen sind. Diese Zahlen wären Grund genug, alles dafür zu tun, dass Presseleute geschützt werden. Doch Präsident Andrés Manuel López Obrador macht das Gegenteil. Kaum eine seiner Pressekonferenzen vergeht, ohne dass er Medien, Journalistinnen oder Journalisten beschimpft. Sein Prinzip: Wer nicht für mich ist, will mich stürzen. Diese verbalen Angriffe, so betont die Organisation für Pressefreiheit Artículo 19, brächten die Medienschaffenden noch mehr in Gefahr.
Für Korrespondenten in Peking wird es noch ungemütlicher
Im letzten Jahr hat die chinesische Regierung so viele ausländische Journalisten des Landes verwiesen wie seit über 30 Jahren nicht mehr. Überwachung und Gängelungen gehören für Korrespondenten in der Volksrepublik seit jeher zum Alltag, doch in jüngster Vergangenheit werden Kollegen gezielt diffamiert. BBC-Korrespondent John Sudworth hat nach einer Hetzkampagne durch Chinas Staatsmedien und der Androhung eines Rechtsstreits das Land fluchtartig verlassen. Damit verliert Pekings Korrespondentenclub einen weiteren verdienten Kollegen. Weltreporter Fabian Kretschmer geht davon aus, dass Sudworth nicht der letzte war, der von der Regierung gezielt aus dem Land geekelt wird.
Die Pressefreiheit kann auch durch Corona-Maßnahmen eingeschränkt werden. In Brüssel haben EU-Kommission und Ministerrat den Zugang zu wichtigen Ereignissen für die mehr als tausend akkreditierten Journalisten gesperrt. Pressekonferenzen und Briefings finden nur noch virtuell statt. Der Kontakt zu den meisten Quellen ist dadurch massiv behindert. Dabei gäbe es gangbare Hygienekonzepte, wie Präsenz-Pressekonferenzen bei der belgischen Regierung beweisen. Doch die EU schottet sich ab. Die Berichterstattung werde zunehmend von virtuellen Verlautbarungen und vorbereiteten PR-Botschaften geprägt, kritisiert Weltreporter Eric Bonse in der taz.
In vielen anderen Ländern sind es die Mächtigen, die Journalisten die Arbeit schwer machen, in den Niederlanden hingegen die Mitbürger: Fast täglich werden Journalistinnen und Journalisten eingeschüchtert, bedroht, attackiert oder bespuckt. Bei Demonstrationen bekommen viele inzwischen Personenschutz. Der öffentlich-rechtliche Rundfunksender NOS hat auf seinen Einsatz- und Übertragungswagen das NOS-Logo entfernt, weil ihnen der Weg abgeschnitten oder vor den Fahrzeugen abrupt gebremst wird. Der Journalistenverband NVJ bietet seit kurzem Kurse an, in denen Medienvertreter lernen, mit Aggressionen und Gewalt umzugehen: Früher seien Journalisten auf Einsätze in Krisen- oder Kriegsgebieten im Ausland vorbereitet worden, so der NJV, jetzt müssten sie für ihre Arbeit in den Niederlanden gewappnet werden.
Die Skepsis war groß in Tschechien, als vor zehn Jahren der Milliardär Andrej Babis in die Politik einstieg – schließlich hatte er kurz vorher eines der größten Verlagshäuser des Landes gekauft. Kann freie Berichterstattung unter solchen Bedingungen funktionieren? Heute ist Babis Premierminister – und die Beruhigung, die viele Tschechen darin sahen, dass es zumindest noch den unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt, schwindet zunehmend: Gerade tobt ein erbitterter Streit um den Direktor des Fernsehens, den das Kontrollgremium des Senders gern abberufen möchte – ein Gremium, dessen Mitglieder vom Parlament gewählt werden. Lästig ist das Fernsehen dem Premierminister schon länger. Er beschwert sich immer wieder über unbequeme Investigativ-Formate.
Ein Monat nach der De-facto-Verstaatlichung des Verlagshauses „Polska Press“ ist die Chefredaktion ausgewechselt worden: Dorota Kania hat die oberste Leitung über 20 Regionalzeitungen, 120 lokale Wochenzeitungen und rund hundert Internetseiten übernommen. Kania war bisher Redakteurin der Wochenzeitung „Gazeta Polska“ und ist eine Vertraute Jaroslaw Kaczynskis, des Chefs der national-konservativen Regierungspartei PiS. Das Verlagshaus „Polska Press“ war im März durch den branchenfernen staatlichen Mineralölkonzern PKN Orlen von der Verlagsgruppe Passau übernommen worden. Noch ist deshalb eine Klage des Bürgerombudsmanns anhängig, der die Pressefreiheit in Gefahr sieht. PKN Orlen hat das Gericht gebeten, die Klage abzuschmettern. So dürfte es auch geschehen, denn die Gerichte sind seit der Machtübernahme Kaczynskis und seiner Gefolgsleute nicht mehr unabhängig.
Nirgendwo ist die Pressefreiheit nach dem Ranking von Reporter ohne Grenzen so groß wie im Norden Europas. Regelmäßig nehmen die Länder vordere Plätze ein. Offizielle Dokumente sind in Skandinavien öffentlich zugänglich, Quellen leicht erreichbar und Presseräte sowie Gewerkschaften stark. Doch auch dort stehen Journalisten unter Druck: Sie sind Hasskommentaren in den sozialen Medien ausgesetzt und könnten sich deshalb zunehmend mit Meinungsäußerungen zurückhalten, befürchten Experten. „In Skandinavien kommen die aggressivsten Online-Attacken aus China und Iran“, heißt es im letzten Bericht der Reporter ohne Grenzen zur Pressefreiheit. Davon seien iranische Exiljournalisten und Berichterstatter betroffen, die kritisch über Hongkong, Taiwan oder einen schwedisch-chinesischen Verleger und Autor schreiben, der seit 2015 in China inhaftiert ist.
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