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Antje Schrupp – Newsletter vom
28. Februar 2023

Gefunden im Stapel der unentscheidbaren Dinge: Die Sonderausgabe 1848 der Frankfurter Rundschau zum 150. Jubiläum der Deutschen Nationalversammlung aus dem Jahr 1998.

Liebe Freund*innen der (Un)_Ordnung,

vorige Woche räumte ich ein Regal in meinem Arbeitszimmer auf. Das mache ich möglichst regelmäßig, ungefähr alle zwei Monate, ich stelle mir dafür extra einen Termin ein: Eine halbe Stunde, in der ich mich einem bestimmten Bereich widme, dort alles durchschaue, aussortiere, einsortiere und so weiter. Denn, naja, es sammelt sich halt immer so einiges an. Ich habe viele Stapel und Schubladen und Ecken in meiner Wohnung, von denen ich gar nicht so genau weiß, was da eigentlich los ist.

Diesmal lag ganz unten in dem Stapel, den ich mir vorgenommen hatte, ein Packen Zeitungen, schon recht vergilbt. Spontan wusste ich nicht, worum es sich handelt, erinnerte mich aber vage, dass ich sie schon oft hin und hergeschoben hatte und offenbar jedes Mal entschied, sie nicht wegzuwerfen, sondern zu behalten. Ich schaute mir sie also genauer an und stellte fest: Es sind Sonderausgaben der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1998, damals erschienen zum 150. Jubiläum der Deutschen Nationalversammlung von 1848! Riesige Seiten (die Rundschau hatte damals noch das große Format!) mit Hintergrundartikeln zu allen möglichen und unmöglichen Aspekten der Paulskirchenversammlung. Und genau jetzt fallen sie mir wieder in die Hände, gerade rechtzeitig zum bevorstehenden 175. Jubiläum! Bingo.

Es ist mir immer eine innere Freude, wenn diejenigen nicht recht haben, die behaupten, alles könne weg, was man ein, zwei, drei, vier Jahre nicht gebraucht hat. Ich sehe das anders. Meiner Erfahrung nach ist es so, dass man Sachen genau dann braucht, wenn man sie nach fünf, sechs, sieben Jahren dann doch weggeworfen hat.

An der Frage, was man wegwerfen und was behalten soll, spalten sich die Philosophien. Ich gehöre zu denen, denen das Wegwerfen schwerfällt, zumal wenn es um Dinge geht, die sich nicht wieder beschaffen lassen. Die Stapel-Methode ist für mich recht praktisch, weil dort Dinge Platz finden, die unentscheidbar sind, wie wir das im ABC des guten Lebens genannt haben. Dort heißt es im Abschnitt über das Aufräumen:

„Ein Problemfeld beim Aufräumen entsteht durch Objekte, die „unentscheidbar“ sind, wie etwa noch nicht ganz schmutzige Wäsche oder halb reparierte Fahrräder, noch nicht ganz gelesene Artikel, halb fertig gestellte Pullover und so weiter. Diese unentscheidbaren Objekte weisen darauf hin, dass die bestehende Ordnung unzulänglich ist und neu überdacht werden muss. Jede Ordnung ist in diesem Sinne unvollkommen, denn es gibt immer etwas Unentscheidbares.“

Jedesmal, wenn ich so einen Stapel an ehemals Unentscheidbarem durchforste, findet sich eine ganze Menge Zeug, das tatsächlich weg kann. Weil es sich in der Zwischenzeit entschieden hat. Weil es zum Beispiel wirklich nicht mehr gebraucht wird. Oder weil sich dafür inzwischen eine Ordnung gefunden, ein Platz, wo ich es hinräumen kann.

Nicht nur bei materiellen Dingen gibt es Unfertiges und Halbfertiges, Gebrauchtes, aber noch Brauchbares, Unentscheidbares. Auch bei politischen und philosophischen Themen ist das so. Es gibt Fragen, auf die man noch keine definitive Antwort hat, Probleme, die noch nicht ganz zu Ende gedacht sind, Themen, bei denen noch nicht klar ist, worauf es hinausläuft. Auch hier ist es wichtig, das Unentscheidbare zu akzeptieren anstatt sich auf schnelle Alternativen festnageln zu lassen.

Es ist jetzt ein Jahr her, dass sich für mich die Frage nach Krieg und Gewalt durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine neu gestellt hat. Und ich bin noch nicht damit fertig. Aber Teilaspekte klären sich. Zum Beispiel denke ich, dass es sich auch bei diesem Krieg um einen Aspekt des „Männlichkeitsproblems“ handelt. Darüber schrieb ich kürzlich eine Kolumne für Zeit-Online: Hier ist der Link.

Die dicke Frankfurter Rundschau über die Paulskirchenversammlung 1848 habe ich unterdessen fast durchgelesen. Interessant darin war besonders ein Artikel von Gabriella Hauch über Die weibliche Seite der Revolution(übrigens der einzige Artikel, der das „Männlichkeitsproblem“ der westlichen Moderne und ihres Verständnisses von Demokratie behandelt, ich glaube, das wäre heute, 25 Jahre später, anders).

Dabei lernte ich, dass die 200 Frauenplätze auf der Empore, von denen aus auch Menschen ohne Penis die Debatten verfolgen konnten, erst nach feministischem Protest eingerichtet wurden (insgesamt fasste die Paulskirche 2000 Personen). Das Frankfurter Beispiel machte Schule: Auch der Reichsrat in Wien und die Preußische Nationalversammlung ließen kurz darauf die Möglichkeit zu, dass Frauen parlamentarische Debatten wenigstens anhören konnten. Nur die Berliner Stadtverordnetenversammlung stimmte mit Zwei-Drittel-Mehrheit gegen eine Zulassung von Zuschauerinnen. Auch auf der Straße waren Frauen natürlich präsent: Nach dem so genannen Septemberaufstand im Herbst 1848, schreibt Hauch, wurden in Frankfurt 585 Frauen wegen Tragen von Steinen als Waffen und zum Bau von Barrikaden verhört und angeklagt.

Ich wünsche auch einen sonnigen März,

Liebe Grüße, Antje

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Neu im Internet

Krieg und Männlichkeit. Warum beides zusammenhängt, viele feministische “Friedensappelle” aber trotzdem zu kurz greifen. - mein Kommentar auf Zeit Online.

Hybris und Hoffnung: Rant gegen Leute, die angesichts des Klimawandels zu mehr Optimismus aufrufen - meine Kolumne auf zeitzeichen.net.

ChatGPT - Wird der Schöpfer zur Maschine? - mein Kommentar “Zum Sonntag” im Bayrischen Rundfunk.

Antje las ein Buch

Anatole Dolgoff: Links der Linken. Eine subjektive Biografie (geschrieben von seinem Sohn) des US-amerikanischen Gewerkschafters und Anarchisten Sam Dolgoff.

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Die Kategorie 'Frau', reproduktive Gerechtigkeit und Gewerkschaftsarbeit
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